Partys für die 1%, strenge Regeln für die 99% – Boris Johnson und die Doppelmoral der Tories

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Nach quälenden zwei Wochen hat die Beamtin Sue Gray endlich die Ergebnisse ihrer Untersuchung über die Festtage in der Downing Street veröffentlicht. Partys, Partys in überfüllten Räumen, “Geschäftstreffen”, BYOB-Veranstaltungen.

In seiner jetzigen – geschwärzten – Form kritisiert Grays Bericht die Kultur in der Downing Street, die “schwer zu rechtfertigende” Veranstaltungen zuließ, sowie “Versäumnisse in der Führung und im Urteilsvermögen”, die eine solche Kultur begünstigten. Es ist sehr wahr, dass diese Regierung weit schlimmere Verbrechen gegen demokratische Normen und Menschenrechte begangen hat und weiterhin begeht als ein paar im Zusammenhang von Covid verbotene Weihnachtsbesäufnisse. Es ist gleichfalls wahr, dass in diesem speziellen Skandal die Missachtung grundlegender Verpflichtungen, die diese Regierung seit dem ersten Tag kennzeichnet, ziemlich deutlich zutage tritt.

Zur gleichen Zeit, als in der Downing Street die guten Zeiten begannen, kämpfte der Rest des Landes kollektiv mit der alltäglichen Angst, einen Fuß aus der Reihe zu setzen. Von der Abwägung potenzieller Risiken für Familie und Freund:innen bis hin zum Risiko einer lähmenden Geldstrafe von 10.000 Pfund für ein Vergehen in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in irgendeiner Form verschuldet ist. Angst, Trauer, Schuldgefühle, Isolation – das war die allgemeine Atmosphäre, in der sich das Land in jenem trostlosen Covid-Winter befand.

Es ist gelinde gesagt erstaunlich, dass die Verantwortlichen in und um die Regierung, die mit mehr Befugnissen ausgestattet waren, als ihnen in mehreren Generationen anvertraut worden waren, sich so wenig um das enorme Vertrauen kümmerten, das die Öffentlichkeit ihnen entgegenbringen musste. Es zeugt von einem – vielleicht buchstäblich – atemberaubenden Maß an Abgehobenheit und Arroganz seitens dieser Eliten.

In der vergangenen Woche hat die Metropolitan Police ein Machtwort gesprochen, indem sie Gray aufforderte, wesentliche Verweise auf Angelegenheiten zu schwärzen, die sie plötzlich beschlossen hat, zu “untersuchen”. Eine solche Intervention wurde bereits von verschiedenen Rechtsexpert:innen und ehemaligen Polizeibeamt:innen als “absoluter Unsinn” bezeichnet, der “keinen rechtlichen Bestand” habe.

Die Polizeipräsidentin Cressida Dick genießt die volle Unterstützung sowohl von Johnson als auch von Innenministerin Priti Patel, und das trotz der weit verbreiteten und lang anhaltenden Forderungen aus der Öffentlichkeit und von Politikern aller Parteien nach ihrem Rücktritt – insbesondere nach dem entsetzlichen Umgang der Polizei mit dem Mord an Sarah Everard und der Mahnwache zu ihrem Gedenken. Unabhängig davon, ob wir das Eingreifen der Met auf Böswilligkeit oder Inkompetenz zurückführen, wird es das öffentliche Gefühl verstärken, dass diejenigen, die über Macht und Privilegien verfügen, weiterhin nach Wegen suchen werden, um sich einer objektiven Rechenschaftspflicht zu entziehen.

Es ist ein Zeichen von politischer Krankheit, wenn ein so großer Teil der Energien einer Gesellschaft für faszinierte Spekulationen darüber aufgewendet wird, was ein:e bestimmte, bisher unbekannte Beamt:in uns sagen wird oder nicht. Wir haben dies bei Robert Mueller gesehen, einer bis dahin unbekannten und sicherlich nicht progressiven Figur im amerikanischen Leben, die gleichzeitig zu einem liberalen Schutzwort und zum Ventil für eine anhaltende Angstattacke vieler Amerikaner:innen wurde, als er gegen Donald Trump wegen “Russiagate” ermittelte.

Die Frage “Wird Robert Mueller gefeuert?” war gleichbedeutend mit der Frage “Werden die Normen der USA in Bezug auf die institutionelle und präsidiale Rechenschaftspflicht durch die Handlungen dieses bestimmten Präsidenten dauerhaft untergraben?” Die Hoffnung, dass eine “vernünftige” und “objektive” dritte Partei, jemand mit einer gewissen uneigennützigen “Integrität”, uns retten könnte. Aber die Vorstellung, dass eine einzelne Person die Macht hat, die Zukunft einer Nation zu retten oder zu verdammen, ist im Allgemeinen nicht das, was Demokratien ausmacht. Es läuft auf eine allzu plötzliche Abrechnung mit dem langsamen Zerfall eines politischen Systems hinaus, verwandelt in ein “Wird-sie-wird-sie-nicht”-Medienspektakel.

Johnsons Ruf als Führungspersönlichkeit mit einer ungesunden Missachtung der Wahrheit hatte sich längst gefestigt. Wenn er seinerseits dazu beigetragen hat, in und um sein Büro in der Downing Street eine unehrliche und unseriöse Kultur zu schaffen, die den größten Teil der Bevölkerung als Dummköpfe ansieht und eine selbstgefällige Genugtuung daraus zieht, die Regeln, die sie allen anderen auferlegt, absichtlich zu missachten, dann ist dies ebenfalls nicht überraschend. Die Verachtung für die Regierten hat sich in den vergangenen elf Jahren der Tory-Regierung wiederholt gezeigt, aber vielleicht noch nie so buchstäblich wie in diesem aktuellen Skandal.

Das Phänomen, das Johnson ins Amt katapultierte – der Brexit – war eine zwingende Kraft, die nur ein Thema betraf. Ein Thema, das sowohl die Unterstützungsbasis der Tories erweiterte als auch eine zunehmend verächtliche und kämpferische Haltung gegenüber der Bevölkerung legitimierte. Eine Haltung, die, historisch gesehen, in der politischen Kultur der Tories verankert ist. Der Brexit wurde aus echten und legitimen Gefühlen der Ohnmacht und Entfremdung geboren. Entfremdung von der politischen Sphäre und jeglicher echter Kontrolle über die Prozesse oder Entscheidungen, die das Leben der Bürger:innen betreffen. Es wäre naiv, anzunehmen, dass ein ordentlich breites Spektrum der politischen Klasse die Entfremdung der Bevölkerung nicht auch weiterhin berücksichtigen wird, wenn sie über die wahrscheinlichen Auswirkungen ihres Handelns nachdenken – oder nicht nachdenken.

Die Reaktion der Öffentlichkeit auf diese jüngste Krise wird wahrscheinlich nichts so sehr gleichen wie der Form eines immer weiter verbreiteten und apathischen Rückzugs aus den unzureichenden Formen der Beteiligung und Kontrolle, die den Bürger:innen einer liberalen Demokratie heute noch zur Verfügung stehen.

Konspiratives Denken und das Misstrauen gegenüber objektiver Wahrheit nehmen weiter zu. Und all dies sind gute Nachrichten für die oligarchischen Mächte, die sich weiterhin auf eine solche Unterwanderung einer wirklich demokratischen Agenda verlassen. Nur ein Wiederaufleben einer von der Bevölkerung gelenkten Politik an der Basis, die auf Interaktion und Mitwirkung bei der Verfolgung einer partizipatorischen und demokratischen Vision setzt, wird der wahren Krise entgegenwirken – einer wütenden, aber unzufriedenen Bevölkerung, die in der Publikumsrolle erstarrt ist.

Obwohl die Realität entmutigend ist, ist ein solcher Aufschwung möglich. Und er findet bereits überall auf der Welt statt, trotz der Einschränkungen, die die Covid-Pandemie mit sich bringt. Die Kampagne von DiEM25 und Unite zur Rettung des Nationalen Gesundheitsdienstes des Vereinigten Königreichs ist ein solches Beispiel im Vereinigten Königreich. Erfahren Sie mehr über die Kampagne Your NHS Needs You und beteiligen Sie sich.

Foto (c) Jacob King/AFP via Getty Images

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Niedergang von Facebook: Jetzt reagiert auch der Aktienmarkt

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Der Aktienwert von Meta (ehemals Facebook) ist in dieser Woche an einem einzigen Tag um 26 % gefallen. Es sieht so aus, als würde die Börse endlich erkennen, was jede wirkliche Facebook-Nutzer:in bereits wusste: dass das Netzwerk immer unattraktiver wird. So viele Freund:innen haben aufgehört zu posten. Der Grund, warum sie überhaupt noch mit “Milliarden” von Nutzer:innen werben können, ist folgender:

a) Sie kaufen immer wieder die Seiten auf, zu denen sich die Aktivitäten verlagert haben oder verlagern könnten (z.B. Instagram, WhatsApp, Oculus VR), und zählen diese Nutzer:innen dann zu den Facebook-Nutzer:innen. Dies wird aufgrund der Aufmerksamkeit der Kartellbehörden immer schwieriger werden.

b) Gefälschte/duplizierte Nutzer:innenprofile werden so gut wie nie entfernt, z.B. von den erwiesenermaßen Millionen gefälschter Profile für die Erstellung gefälschter Likes für Unternehmensseiten, oder die angeblichen Republikaner:innen, die den amerikanischen Wahlkampf beeinflusst haben.

c) Viele Webseiten haben ein “Facebook-Login” eingeführt, d.h., zum Lesen Ihrer Tageszeitung geben Sie Ihren Facebook-Namen und Ihr -passwort ein, anstatt ein Passwort für die Zeitung zu wählen. Dann gelten Sie als aktive Facebook-Nutzer:in, obwohl Sie weder auf Facebook selbst noch auf einer Facebook gehörenden Website Zeit verbracht haben. Die entscheidende Auswirkung dabei ist, dass Facebook den Nutzer:innen, die nur den Facebook-Login verwenden, keine Werbung anzeigen kann. Diese Personen bleiben also außerhalb der Reichweite von Facebook, es sei denn, sie verwenden aktiv ein anderes Meta-Produkt wie Instagram.

Warum wenden sich die Menschen von Facebook und anderen von Zuckerberg kontrollierten sozialen Netzwerken ab? Bedenken hinsichtlich der Privatsphäre und Abscheu vor den gemeldeten Ausschreitungen sind sicherlich ein Grund. Aber es geht auch etwas mehr Grundsätzliches vor sich, etwas, das nach einer gewissen Zeit JEDES erfolgreiche soziale Netzwerk betrifft. Dazu ist es hilfreich, sich die historische Entwicklung anzuschauen.

Historische Entwicklung

Die ursprüngliche Idee von Mark Zuckerberg war eine Plattform zur Bewertung der Attraktivität von Studentinnen. Aus diesen unglücklichen Anfängen schuf er einen Ort, an dem Menschen die Verbindung zu ihren Klassenkamerad:innen und Freund:innen aufrechterhalten konnten. Und gelegentlich, sehr gelegentlich – Facebook ist nicht Twitter – fanden sie durch gegenseitige Verbindungen oder Facebook-Gruppen neue Freund:innen. Das entspricht in etwa dem 50-Personen-Kreis der “guten Freunde” von Robin Dunbar. Dann schlossen sich auch Eltern, Onkel, Großeltern und Nachbarn dem Netzwerk an, so dass Facebook die Bedingung eines Treffpunkts für Dunbar’s 150-Personen-“Clan”-Kreis erfüllte.

Noch etwas später begannen die Chef:innen, es zur Überprüfung von Bewerber:innen zu nutzen, und alle Mitarbeiter:innen desselben Unternehmens wurden routinemäßig ermutigt, sich zur sozialen Kontrolle mit anderen zu befreunden (Dunbar’s 500-Personen-Bekanntenkreis). Diese allmähliche Ausweitung dessen, wer auf Facebook ist bzw. wer dein:e “Freund:in” auf Facebook ist, führte auch zum Absterben von Facebook. Die Dinge, über die man sich mit anderen “Burschenschaftlern” austauscht, sind ganz anders als die, über die man sich in der Familie austauscht, und auch anders als das, was man mit einer Kolleg:in oder einer potenziellen zukünftigen Chef:in teilen möchte. (Selbst mit der viel zu späten Einführung der Möglichkeit, einzuschränken, wer welche Inhalte sehen kann, ist es zu unangenehm, auf der gleichen Website und im gleichen Feed sowohl Dinge von “Burschenschaftern” als auch das Keksrezept der Oma zu sehen.)

Dunbar hat gezeigt, dass von den unterschiedlich großen, uns umgebenden Freundes- und Bekanntenkreisen ein unterschiedlicher sozialer Nutzen erwartet wird. Das gilt auf Facebook wie überall sonst auch. Als Facebook nur für etwa 50 “gute Freunde” gedacht war, teilten wir dort authentische Inhalte und waren dadurch verletzlich, denn dieser Kreis lebt von Intimität und gegenseitiger Hilfe. Als unser “Clan” dazukam, wurde Facebook zu einem Ort, an dem wir Bestätigung und nur gelegentlich Unterstützung erhielten. In der jetzigen “Bekannten”-Phase wäre die natürliche Verwendung von Facebook der Austausch von begrenzt möglichen Informationen und Ähnlichem. Und einige Leute nutzen es auch dafür, aber es gibt bessere Seiten. Es bleibt auch eine Seite zum Angeben, obwohl die Bestätigung durch Bekannte nicht so wertvoll ist wie die Bestätigung durch unseren Clan.

Irgendwann beim Übergang von einer Seite für “Clans” zu einer Seite für “Bekannte” entdeckten wir, dass der Durchschnittsmensch an einem Tag nicht so viele Dinge tut/sagt, die einen “Like” wert sind, und dass die Leute unendlich viele “Likes” haben wollen, aber nur begrenzt bereit sind, selbst “Likes” zu vergeben. Dies führte zum Aufkommen von Facebook-Quiz, Persönlichkeitstests und Spielen wie Farmville, die die schwächeren Facebook-“Freundschaften” kommerzialisierten und ein gewisses Maß an Gegenseitigkeit bei der Unterstützung sicherstellten. Gleichzeitig sorgten sie aber auch dafür, dass uns diese Handlungen nicht mehr glücklich machen konnten, da sie nicht mehr authentisch waren. Es gibt nur begrenzt mögliche Spielergebnisse, die zu einem ”Like” führen, und nur so und so viele Gelegenheiten, einer Bekannten zu helfen, die meine Hilfe “dringend braucht”, um ihre virtuellen Pflanzen in irgendeinem Videospiel zu gießen.

Die Spielphase führte zu einem Exodus aus Facebook, weshalb Facebook die Möglichkeiten, mit Spielen in natürliche Freundschaften/Kooperationen einzudringen und diese zu kommerzialisieren, schließlich drastisch einschränkte. Der Schaden war jedoch angerichtet. Durch die Spiele und den Zustrom von immer weiteren Bekanntenkreisen gibt es auf Facebook kaum noch echte Freundschaften. Fast jeder, der noch auf Facebook postet, tut dies, um für seine Projekte oder sich selbst zu werben. Wer will schon einen Feed voller kommerzieller Angebote von Bekannten und Ex-Kolleg:innen lesen, gemischt mit beunruhigend zielgerichteter bezahlter Werbung und ein paar Mems?

Ironischerweise sind die einzigen Orte, die noch ein anständiges Facebook-Erlebnis bieten können (ganz anders als das ursprüngliche Facebook, aber im Einklang mit Dunbar’s Vorhersage), die Gruppen, die einem bestimmten Ort gewidmet sind, wo man mit Fremden interagiert, die aber Informationen über interessante lokale Möglichkeiten und etwas nachbarschaftliche Hilfe der nicht-virtuellen Art bieten. Instagram spiegelte Facebook wider, indem es sich zunächst zu einem Ort des Prahlens entwickelte und nun auf dem Weg zur endgültigen, auf kommerzielle Inhalte ausgerichteten Phase ist.

Nach der Selbstbestimmungstheorie sehnt sich der Mensch nach Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit. Ursprünglich bot Facebook Zugehörigkeit in Form von Bekenntnissen, reichlicher gegenseitiger Bestätigung, Fotos vom Ausgehen und so weiter. In seiner Spielphase bot es Autonomie und Kompetenz zusammen mit einem gewissen Maß an Verbundenheit (insofern, als man sich darüber freuen kann, dass Elsa vom technischen Support einem beim Gießen der nicht vorhandenen virtuellen Pflanzen geholfen hat). Derzeit bietet es weder das eine noch das andere und hat daher das meiste von dem verloren, was die Menschen ursprünglich an Facebook interessiert hat.

Einführung in das Metaversum

Oculus VR, das Mark Zuckerberg gekauft hat und auf dem er sein Metaversum aufbauen will, befindet sich derzeit in der Spielphase (mit weniger sozialem Fokus als die entsprechende Phase bei Facebook) und bietet vor allem Autonomie und Kompetenz sowie ein wenig Verbundenheit. Es ist auch schon möglich, in dieser virtuellen Realität einen Film zu sehen oder durch schöne Landschaften zu spazieren, aber nur wenige Menschen machen davon Gebrauch. Strände machen keinen Spaß ohne die Meeresbrise, den Sand unter den Füßen und einen geliebten Menschen an unserer Seite. Und es wird noch zwei Jahrzehnte dauern, bis es ein Gerät geben wird, das wahrscheinlich viel Platz braucht, schwer, lästig und nur für 1 % der Bevölkerung erschwinglich ist, das eine gute Simulation des gesamten Erlebnisses ermöglichen kann. Es könnte sich auch herausstellen, dass es zu lästig ist, um kommerziell brauchbar zu sein.

Was wäre, wenn Zuckerberg wirklich die gute Stimmung in seinem Metaversum steigern wollte, indem er die Verbundenheit erhöht, um es wie das frühe Facebook zu machen? Meiner Meinung nach ist das unmöglich. Erstens ist das Dunbar-Problem nicht verschwunden, und zweitens werden Bilder von Kolleg:innen, die in einem virtuellen Raum ein Feierabendbier trinken, nie so beliebt sein wie Fotos von realen Personen, selbst wenn es (in 50 Jahren) möglich wäre, sich an virtuellem Bier zu berauschen und ohne Hemd auf einem virtuellen Tisch zu tanzen. Inhalte von ein und derselben Plattform (wie z.B. der eigene Spielstand bei Facebook-Spielen) eignen sich nicht besonders gut für Likes, zumindest nicht auf täglicher oder wöchentlicher Basis. Das heißt, dass der Großteil der Inhalte weiterhin von außerhalb des Metaversums kommen muss, wenn wir Likes dafür bekommen wollen. Das wiederum bedeutet, dass wir weiterhin einen Großteil unserer Zeit außerhalb des Metaversums verbringen werden (oder nur sehr lose eingestöpselt sind, wie bei Google Glass), um später am Tag zurückzukommen und Wertschätzung für das zu erhalten, was wir über diese Aktivitäten posten.

Außerdem gibt es eine Grenze dafür, wie sehr der Algorithmus dies verstärken kann. Die erste Idee – ein Androide, ein falscher Nutzer, der eine Menge Wertschätzung an alle verteilt – wird nicht funktionieren, denn der Gyges-Effekt hat uns gelehrt, dass Menschen hauptsächlich durch die Fähigkeit motiviert sind, andere Menschen zu erreichen und zu beeinflussen. Außerdem hat das Farmville-Experiment gezeigt, dass Menschen nur eine begrenzte Toleranz gegenüber künstlichen Beziehungen haben. Sobald die Mehrheit der Nutzer:innen versteht, dass Elsa sie nicht wirklich mag, sondern von der Plattform dazu gebracht wurde, ein “Gefällt mir” zu äußern, oder dass Elsa nicht wirklich dringend Pflanzensamen von dir braucht, sondern die Plattform sie dazu gebracht hat, sie anzufordern, werden sich diese Interaktionen nicht mehr gut anfühlen. Schließlich gibt es einen gewissen Spielraum für einen Algorithmus, der die Inhalte besonders unsicherer Nutzer:innen besonders vielen Menschen zeigt, um ihnen einen größeren Anteil an Likes oder dem, was im Metaverse als Likes gilt, zu geben. Aber der Kuchen ist klein, und wird (wenn es wie bei Facebook abläuft) immer kleiner, je länger man auf der Plattform ist. Lügen darüber, wem was gefallen hat, sind auch ein schneller Weg, diese Plattform zu zerstören.

Aber Zuckerberg geht es nicht darum, eine Wohlfühlmaschine zu schaffen. Er will nur das Gerät kontrollieren, mit dem Erwachsene die meiste Zeit ihres Lebens verbringen, um die Werbeeinnahmen aus all diesen Stunden zu erhalten. Solange wir nicht in einer Star-Trek-Gesellschaft leben, bedeutet dies, dass das Gerät nicht in erster Linie zum Spielen oder zur Unterhaltung dienen kann, sondern zum Arbeiten. Und in der Tat hat Zuckerberg bereits verraten, dass er plant, Oculus VR zu einem Co-Working-Gerät zu machen, mit dem Sie Ihre Kolleg:innen neben sich sehen können, als ob Sie im selben Büro arbeiten würden. Im Moment ist es schwer vorstellbar, mit einer Oculus VR zu arbeiten. Sie ist zu schwer und sperrig und erlaubt es nicht, zu trinken oder sich im Haus zu bewegen, während man sie trägt. Brillen sind vielleicht die bessere Wahl, auch wenn sie natürlich weniger immersiv sind, und Google hat seit 2013 erfolglos versucht, sie populär zu machen. Wird Zuckerberg dort Erfolg haben, wo Google gescheitert ist? Bislang wurden alle seine Erfolge nach der Gründung von Facebook gekauft und nicht geschaffen.

Als letzte Option erwähnte er in seinem Metaversum-Vortrag die Hologramme. Hologramme wurden bereits eingesetzt, um Vorlesungen aus der Ferne zu halten. Aber solange sie der holografierten Person nicht das Gefühl geben, anwesend zu sein, sind auch ihre Einsatzmöglichkeiten begrenzt. Außerdem kacken Tiere nicht dahin, wo sie essen, und Menschen arbeiten nicht dort, wo sie spielen, oder andersherum. Sobald es Zuckerberg gelingt, Zoom durch Oculus VR zu ersetzen, werden die Leute aufhören, Oculus VR zum Spielen zu verwenden, und so das Bedürfnis befriedigen, die Arbeit abzuschalten und für die Kolleg:innen nicht erreichbar zu sein. Im besten Fall kann er unsere Arbeitszeiten ODER unsere privaten Zeiten kontrollieren, er kann unsere Interaktionen mit Freund:innen ODER mit Kolleg:innen kontrollieren, aber höchstwahrscheinlich nicht beides zur gleichen Zeit.

Das bedeutet nicht, dass unsere Nutzung der Verbindungstechnologien gleich bleiben wird. Die Anzahl der Stunden, die jeder Mensch online verbringt, hat sich zwischen 2008 und 2018 verdoppelt und steigt weiter dramatisch an. Die Grenze zwischen der Online- und der Offline-Welt wird weiter erodieren, höchstwahrscheinlich mit schrecklichen Folgen für unsere Gesellschaften und Demokratien. Dies ist die Technik-Freak-Idee vom “Metaversum” im Sinne eines Zeitpunkts anstatt einer bestimmten Zuckerberg-eigenen Software. Aber das bleibt für einen anderen Tag.

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Gegen die Aufrüstung der deutschen Armee, für eine neue Friedensbewegung

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Während am gestrigen Sonntag Hunderttausende auf den Straßen Berlins und überall auf der Welt gegen den Krieg in der Ukraine und für Frieden protestierten, beschließt die Regierungskoalition unter Führung der Sozialdemokraten und der – aus der Friedensbewegung entstandenen – Grünen die massive Aufrüstung der deutschen Armee. Das ist ein Dammbruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte und ein besonderes Armutszeugnis für die Grüne Partei!

Gemeinsames Statement des Vorstands von MERA25 in Deutschland und des deutschen Bundeskollektivs von DiEM25 zur Zäsur in der deutschen Rüstungspolitik im Zeichen des Krieges in der Ukraine:

Die Regierungskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten beschließt, die Aufrüstung der deutschen Armee, gemeinsam mit den Konservativen, voranzutreiben. Es ist, als habe die Rüstungsindustrie nur auf diese Chance gewartet und die Rede des Kanzlers geschrieben. Diese Ampelkoalition entscheidet sich für Aufrüstung statt für die Bekämpfung der Pandemie- und Klimakrise und für den Beginn eines neuen (Kalten) Krieges statt eines Green New Deals.

Die deutsche Armee verfügt über einen ähnlichen jährlichen Etat (~52 Milliarden Euro) wie Russland (~60 Milliarden Euro), Frankreich (~52 Milliarden Euro) und Großbritannien (~60 Milliarden Euro). Die deutsche Regierung benutzt offensichtlich den Krieg in der Ukraine als Deckmantel, um in Europa neben der wirtschaftlichen Führungsrolle nun auch die militärische Führungsrolle zu übernehmen. Dies stellt eine Zäsur in der deutschen Politik dar.

Wir unterstützen finanzielle Sanktionen gegen russische Oligarchen sowie die umfassende Aufnahme von Flüchtenden. Dass bei Flüchtenden aus anderen Regionen und an Kriegen beteiligten Banken aus anderen Ländern ganz anders gehandelt wird, muss umgehend korrigiert werden. Wir fordern, alles für die Beendigung des Krieges zu tun und die Menschen in der Region in Frieden zu lassen.

Olaf Scholz redet von der “Stärke der NATO”, “neuen starken” Fähigkeiten für die Armee, man wolle die “nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern in Europa bauen” und auch neue Drohnen sollen angeschafft  und entwickelt werden. Finanziert und im Grundgesetz abgesichert werden soll dies im Bundeshaushalt 2022 über ein Sondervermögen Bundeswehr von 100 Milliarden Euro. Zusätzlich sollen auch die jährlichen Ausgaben auf mehr als 2 % des BIP erhöht werden.

Diese Politik ist aus drei Gründen der völlig falsche Weg:

  1. Erstens sind Aufrüstung und Drohpolitik kein Ansatz zur Konfliktlösung.
  2. Zweitens ist die Aufrüstung der deutschen Armee im historischen Kontext extrem beunruhigend und unnötig.
  3. Drittens stehen wir vor der historisch einmaligen Herausforderung des Klimawandels, dem wir mit allen verfügbaren Mitteln begegnen müssen.

Die Aussagen von Olaf Scholz zum schnellen Ausbau der Erneuerbaren Energien und einer (zu späten) CO2 Neutralität bis 2045 sind heuchlerisch, wenn zugleich eine massive Erhöhung des Rüstungsetats angekündigt wird, während der Ausbau der Erneuerbaren mit 60 Milliarden Euro abgespeist wird (aus dem Topf zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie). Zudem wird weitere Infrastruktur für Fossile Brennstoffe angekündigt: Aufbau einer Kohle- und Gasreserve und der Schaffung von Flüssiggas-Häfen.

Angesichts dieses Dammbruchs und des völlig falschen Weges der Bundesregierung fordern wir eine Abkehr von Gewalt als Mittel der Politik und die Zuwendung zu einer Politik des gemeinsamen Wohlstands und Friedens. Wir fordern:

  • Verzicht auf neue Infrastruktur für Fossile Energien sowie weitere Integration und Vernetzung des Kontinents und seiner Nachbarregionen im Rahmen einer Europäischen Grünen Energieunion
  • Aufbau einer völkerverbindenden Diplomatie und einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss aller europäischen Länder. Kernziele sind die gemeinsame Abrüstung, die friedliche Lösung von Konflikten und dauerhafter Frieden auf dem gesamten Kontinent.
  • Start einer neuen Friedensbewegung unter Beteiligung von MERA25, DiEM25 und der Progressiven Internationalen

Zitat Julijana Zita, Vorsitzende von MERA25:
100 Milliarden Euro werden einfach aus dem Ärmel gezaubert, um sie in die schmutzigste Industrie der Welt, in jedem Sinne, zu investieren. Eine Industrie, deren Produkt ausschließlich Zerstörung, Tod, massive Umweltverschmutzung und „scheinheilige“ Sicherheit ist. Ebenso scheint vielen das historische Häppchen zu entgehen, dass Deutschland das erste mal seit dem Zweiten Weltkrieg von Expert:innen und vorrangig NATO-Partnern überschwänglich Lob für militärische Aufrüstung im absurden Ausmaß bekommt. Statt sich damit auseinanderzusetzen, wie wir zu dauerhaftem Frieden verhelfen können, rüsten sie auf.”

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Stoppt den Krieg in der Ukraine

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Stoppt Putins Invasion. Stoppt jegliche Eskalation. Frieden durch eine völkerverbindende Diplomatie!

Der 24. Februar wird uns als dunkler Tag für Europa in Erinnerung bleiben: Russland hat die Ukraine angegriffen. Die geopolitischen Spiele zwischen Putin und der NATO haben zum Krieg geführt, und die Völker Europas sind die großen Verlierer, denn die EU hat sich einmal mehr als machtlos und irrelevant erwiesen.

Oberste Priorität muss es heute sein, den Krieg zu beenden, die russischen Truppen in ihre Stützpunkte zurückzuholen und einen echten Friedensprozess einzuleiten. Die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen und ein dauerhafter Frieden müssen das Ziel sein. Leider haben sich die Machthaber in Moskau, Washington und in der EU, die diese Spannungen entweder verursacht oder nichts getan haben, um ihre Eskalation zu verhindern, als unfähig erwiesen, einen tragfähigen Friedensprozess einzuleiten.

DiEM25 ruft Progressive in Europa, Russland, den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt dazu auf, eine neue internationalistische Friedensbewegung ins Leben zu rufen, deren Ziel es ist, den globalen militärisch-industriellen Komplex zu entwaffnen und durch eine Volksdiplomatie – der die Interessen der Menschheit am Herzen liegen – auf internationalistische Solidarität, Kooperation und Frieden hinzuarbeiten.

Kriege opfern das gemeine Volk zum Nutzen der Mächtigen und der Profite der 1 %. Um sie zu stoppen und zu verhindern, brauchen wir echte Demokratie.

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Kein Krieg! Kein Expansionismus!

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Diese Stellungnahme wurde am 22. Februar 2022 veröffentlicht. Unsere Stellungnahme infolge der russischen Invasion der Ukraine finden Sie hier.

“Kein Krieg! Kein Expansionismus!” Das ursprüngliche Versprechen der Europäischen Union an die Völker Europas war ein einfaches, aber machtvolles: Nie wieder wird der europäische Kontinent von Krieg heimgesucht werden. Heute jedoch sehen wir eine ohnmächtige und gespaltene EU, die hilflos von der Seitenlinie aus zusieht, unwillig und unfähig, der NATO und Putin die Stirn zu bieten.

Wir beobachten mit Sorge, wie die EU in die Bedeutungslosigkeit abrutscht, eingeklemmt zwischen dem militaristischen Expansionismus sowohl der NATO als auch Putins. Dies ist nicht das Europa, das den Europäer:innen versprochen wurde.

Die Lösung existiert und ist einfach: Keine NATO-Expansion in die Ukraine. Und eine sofortige Rückkehr der russischen Truppen auf russischen Boden.

Dies ist die Lösung, die nicht nur den Interessen der Völker Europas entspricht, sondern auch denen unserer Genoss:innen in der Ukraine und in Russland, die sich entweder in Gefangenschaft befinden oder um ihr Leben fürchten, in Regimen, die das Schlimmste der europäischen Geschichte wieder aufleben lassen.

Werden die Staats- und Regierungschefs der EU den Mut finden, diese angemessene, vernünftige “NO WAR”-Lösung zu formulieren? Wahrscheinlich nicht. Deshalb brauchen die Europäer:innen Bewegungen wie DiEM25: um für ihre Interessen zu kämpfen – nicht für die Interessen von Kriegstreiber:innen, die von eskalierenden Spannungen und, ja, sogar von Krieg profitieren.

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Beral Madra über die Türkei, die EU und DIEM25´s Streben nach Demokratie

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Wir haben uns mit der türkischen Kunstkuratorin Beral Madra zusammengesetzt, um über die Türkei, die EU und das Streben von DiEM25 nach Demokratie zu sprechen. Das vollständige Interview können Sie unten lesen.

Wie würden Sie Menschen, die nicht mit ihr vertraut sind, die heutige Situation in der Türkei beschreiben? Was sind die wichtigsten Probleme, mit denen die Menschen zu kämpfen haben?

Um das heutige politische, soziale und kulturelle Klima der Türkei und der islamischen Länder zu verstehen, muss man das legendäre Buch des iranischen Denkers Daryush Shayegan “Le regard mutilé, Schizophrénie culturelle” im Detail lesen. Dieses verstümmelte Bewusstsein, die kulturelle Schizophrenie, hat drei Komponenten: den unvollendeten Untergang des Osmanischen Reiches, die Moderne und die Gründung der Republik, und den politischen Islam in Verbindung mit dem Neokapitalismus. Diese Umwälzungen waren für die Massen schon immer beunruhigend. Vor allem für die Konservativen war es schwer, sich an diese Transitionen anzupassen.

Meine Generation hat das Hereinbrechen der Moderne und drei Militärputsche in den Jahren 1960, 1970 und 1980 gesehen, die nachfolgenden erlebten eine Spaltung zwischen säkularen und religiösen Ideologien. Wir hadern nach wie vor mit diesen Entwicklungen, um dies zu überwinden müssen wir zu einer soliden demokratischen Ordnung übergehen.

Erklären Sie uns dieses von Ihnen erwähnte “verstümmelte Bewusstsein” bitte näher. Wie wirkt es sich auf die Beziehungen zwischen den Menschen in diesem Land aus?

Shayegans Buch handelt von den modernistischen, kolonialistischen und imperialistischen Interaktionen zwischen dem Westen und der islamischen Welt. Er erklärt, dass sich die islamische Welt nach wie vor im Konflikt mit dem wissenschaftlichen Zeitalter des 20. Jahrhunderts befindet. Wie Shayegan es ausdrückt: Unser Dilemma besteht darin, dass unser Bewusstsein noch immer auf der magischen Ebene der Symbole operiert, während unsere Ideen ihren Ursprung in den epistemischen Mutationen des neuen Zeitalters haben.

Viele islamische Länder haben modernistische Systeme übernommen. Und Ideen haben sich geändert, aber die Einstellung der Bevölkerung stimmt nicht mit der westlichen Aufklärung überein. Das gilt sogar für die Türkei, die sich früher als viele andere islamische Länder einem entschlossenen Modernisierungsprogramm zuwandte. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Interventionen der EU, Russlands und der USA der letzten Jahrzehnte die Spaltung zwischen laizistischen und religiösen Gemeinschaften noch verschärft haben. Zum Beispiel im Nahen Osten, im Iran, in Afghanistan, Syrien und so weiter.

Was muss geschehen, damit die Türkei zu einer soliden demokratischen Ordnung übergehen kann? Welche Schritte müssen nun unternommen werden?

Seit den 1950er Jahren wurden viele Schritte unternommen, um eine solide demokratische Ordnung zu erreichen. Während des Demokratisierungsprozesses 1950 bis 2000 lernten die Menschen die Demokratie kennen. Dies erlaubte ihnen, sie  jedes Mal zu bewahren, wenn sie durch antidemokratische Bewegungen gestört wurde.

Im Moment sollten sich die Oppositionsparteien zusammenschließen und so bald wie möglich für transparente Wahlen sorgen. Und die Menschen sollten sich auf zwei Ziele konzentrieren. Erstens, die Vorteile einer Demokratie des 21. Jahrhunderts zu verstehen und zu verinnerlichen. Und, zweitens, Oppositionsparteien bei den Wahlen zu unterstützen.

Können Sie auf positive Entwicklungen in den letzten Jahren verweisen?

Ich will versuchen, optimistisch zu sein, und sagen, dass es positive Entwicklungen gibt. Da ist zum Beispiel die Bereitschaft der Oppositionsparteien, Bündnisse einzugehen, und auch ihr Wunsch, eine Regierung mit demokratischen Zielen zu bilden. Ganz zu schweigen davon, dass sich mindestens 50 % der Bevölkerung die Einführung der Demokratie wünscht.

Eine weitere positive Entwicklung ist der kontinuierliche Erkenntnisgewinn aus den zerstörerischen wirtschaftlichen und sozialen Realitäten, trotz Zensur. Die Wahrheit setzt ihren Kampf gegen die „Post-Wahrheit“ fort. Dank der kontinuierlichen Erklärungsarbeit von NGOs und sozialen Medien wird zum Beispiel ein Bewusstsein für Femizid und Kindesmissbrauch geschaffen.

Laut dem Bericht 2019 der Plattform “We Will Stop Femicide” wurden 115 der 474 Femizide im Jahr 2019 als Verdachtsfälle registriert. Die Schuldigen konnten nicht gefunden werden. Laut dem Bericht für 2020 wurden in der Türkei 300 Frauen von Männern getötet, und 171 Frauen wurden unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden. Der Frauenmord in der Türkei beruht auf dem guten alten Patriarchat mit seiner Absurdität der Familienehre. Er beruht auf einer inakzeptablen Fehlinterpretation des Korans. Und auf dem Beharren auf einer männlich dominierten Staats- und Regierungstradition. Gleichberechtigung wird nicht verinnerlicht; Männer sind überlegene Wesen!

In der Türkei sind Zweigstellen vieler internationalen Vereinigungen tätig. Sie haben die größte Widerstandskraft gegen diese fatale Fehlentwicklung. In meinem Berufsfeld engagieren sich zeitgenössische Künstler:innen und Kunstexpert:innen sowie Kulturvereine in mutigen ungeschönten Produktionen. Vor allem weibliche Künstlerinnen stehen bei diesem Streben nach Demokratie an vorderster Front.

Welchen Einfluss hat die herrschende Macht in den letzten 20 Jahren auf das Land gehabt?

Seit der Gründung der Republik im Jahr 1923 hat es immer einen Konflikt zwischen dem religiös begründeten Konservatismus und dem Säkularismus gegeben. Dieser Konflikt endete jedoch immer mit dem Sieg des Letzteren. Bei jedem Putsch wurde die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Demokratie geschwächt und verlor an Boden. Später dann, mit dem Putsch von 1980, entstand eine stärkere religiöse Ader.

Eine neue Hoffnung auf echte Demokratie wuchs in den 1990er Jahren mit dem Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union. Dies war eine Art postmoderne Utopie, die vom Neokapitalismus stark befeuert wurde. Ich denke, das Problem bei diesem raschen Übergang von vier Jahrzehnten militärischer Vormundschaft und Staatskapitalismus bestand darin, sich nicht den politischen Sünden und Irrtümern der Vergangenheit zu stellen und die politischen Morde und das Blutvergießen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht aufzuarbeiten. Die Nichtkonfrontation mit den Gräueltaten der Vergangenheit hatte eine sehr schädliche Wirkung.

Die heutigen Machthaber nutzten diesen Wunsch, so schnell wie möglich “Demokratie” zu erreichen. Im Jahr 2002 begannen sie mit zahlreichen Reformen im Hinblick auf die Bedingungen des EU-Beitritts, die Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte. Das ist, was ich mit der postmodernen Utopie meine.

Ab 2008 kamen allmählich die wahren Ziele der Regierung zum Vorschein. Islamische Sekten und Gemeinden wurden im gesellschaftlichen Leben sichtlich aktiver und spielten schließlich eine größere Rolle in Regierungs- und Bürokratieangelegenheiten. Religiöse Sekten haben im Bildungssystem das Sagen. Trotzdem ist skandalöser Kindesmissbrauch in solchen Einrichtungen an der Tagesordnung.

Diese kontroverse Entwicklung hin zu einer islamischen Republik erreichte am 15. Juli 2016 einen Wendepunkt. Dieses Datum markiert den Militärputsch, der den Boden für das derzeitige Regime bereitete. In den folgenden zwei Jahren des Ausnahmezustands füllten sich die Gefängnisse mit über 100.000 sogenannten Fetö-Anhängern. Im Juni 2018 wurde die Verfassung mit dem Versprechen einer neuen Demokratie geändert. Doch stattdessen wurde die parlamentarische Demokratie durch ein Präsidialsystem mit weitreichender präsidialer Machtfülle ersetzt. Heute ist diese Erweiterung in einen geradezu unerträglichen Prozess eingetreten. So fühlt es sich also an, als hätten die Menschen sich einer Täuschung hingegeben!

Es gibt eine große Kluft zwischen der religiösen und der säkularen Bevölkerung. Zwischen rücksichtsloser Kleingeistigkeit und den aufgeklärten Massen. Zwischen ethnischen Mehrheiten und Minderheiten. Darüber hinaus hat die rassistische Diskriminierung von Kurden, Alewiten, Juden und Armeniern zugenommen. Verschärft wird dies durch die wirtschaftliche Depression, die seit 2018 herrscht.

Welche Hoffnung hegen Sie für die Zukunft der Türkei und ihrer Bevölkerung?

Die Zukunft hängt von mehreren Entwicklungen ab. Erstens von einem ehrlichen und ungestörten Wahlprozess, der von den Oppositionsparteien befürwortet wird. Dies ist notwendig, um die Türkei vor dem schlimmstmöglichen Schicksal zu bewahren. Ich meine damit, dass sie nicht einfach nur nach mehr Stimmen streben, sondern sich gemeinsam um die Verwirklichung der Demokratie bemühen sollten.

Zweitens die Hoffnung, dass die Gesellschaft ihre Lektion aus dem gelernt hat, was ihr in Bezug auf die Wirtschaft und den Verlust der grundlegenden Menschenrechte widerfahren ist. Selbst wenn die erhofften Ergebnisse erzielt werden, werden der Neuaufbau und die Heilung der staatlichen Ministerien und Behörden ein langer Prozess sein.

Ich hoffe auf einen radikalen Wandel in der Politik der EU gegenüber der Türkei. Die EU sollte ihre unverantwortliche Haltung gegenüber den internen Entwicklungen in der Türkei aufgeben und den Aufbau der Demokratie unterstützen. Sobald die EU die Lage in der Türkei richtig einzuschätzen lernt, wird sie erkennen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, dass in dem Land Demokratie herrscht. Das könnte eine fast heitere Zukunft sein.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die EU ihre Haltung gegenüber der Türkei ändern wird?

Es liegt im Interesse der EU, dass die Türkei sich demokratisiert. Europa ist umgeben von Ländern in angespannten und bedrohlichen Situationen. Schauen Sie nur, was passiert. Menschen aus kriegszerrütteten Ländern kommen in großer Zahl nach Europa. Das geht nun schon seit über zehn Jahren so. Europa kann sie nicht aufhalten, selbst wenn die EU der Türkei Millionen Euro zahlt, um die Menschen von den Grenzen fernzuhalten. Das Schlimmste daran ist, dass die Menschenhändler Millionen mit diesem “Geschäft” verdienen. Es handelt sich also wieder einmal um das große Geschäft des Zombie-Kapitalismus. Innerhalb dieser dystopischen Entwicklung ist die Türkei das Schlüsselgebiet. Eine solide Demokratie ist also eine Versicherung!

Ein weiterer kritischer Punkt ist die Länge und die ökologische Bedeutung der türkischen Ägäis- und Mittelmeerküsten. Dies ist ein entscheidender Grund für die EU, eine konstruktive Kommunikation und Zusammenarbeit mit der Türkei zu pflegen.

Die Türkei hat große Umweltprobleme. Zwei Kernkraftwerke sind im Bau. Der so genannte Kanal vom Schwarzen Meer zum Marmarameer. Wasserkraftwerke, die Flüsse und Seen austrocknen, was auch für Europa problematisch ist. Ich hoffe also, dass die EU all diese Themen auf ihre Tagesordnung setzt und endlich einen politischen Ansatz zur Unterstützung demokratischer und umweltbewusster Ziele verfolgt.

Was muss geschehen, um einen ehrlichen Wahlprozess zu gewährleisten?

Im Jahr 2021 erlitt die türkische Wirtschaft einen vollständigen Zusammenbruch, der bis heute anhält. Experten sagen, dass die wahre Inflation bei 90 % liegt! Nach Berechnungen der Consumer Rights Association leben in der Türkei 16 Millionen Menschen in Hunger und 50 Millionen in Armut. Die Zahl der hungernden und armen Menschen beläuft sich auf 66 Millionen. Ich denke, dass die Menschen im Vorfeld der Wahlen diese Tatsache erkennen und ihre Rechte einfordern werden. Seit einigen Monaten leisten die Arbeitnehmer:innen mit verschiedenen Protesten Widerstand. Das ist ein positives Zeichen.

Wie können Bewegungen wie DiEM25 in der Türkei erfolgreich sein?

Ich bin Mitglied von DiEM25 in der Hoffnung, dass DiEM25 die Stimme der Türkei in der EU-Politik sein wird. Demokratiefreund:innen in der Türkei sind darin geübt, NGOs oder Reformbewegungen zu gründen. Die große Mehrheit arbeitet in politischen Parteien und NGOs, die die Grundrechte verteidigen. DiEM25 erklärt die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Verwerfungen der heutigen Weltordnung. Es lädt die Menschen ein, diese Probleme zu überwinden und sich für ein angenehmeres, gesünderes, kreativeres und nachhaltigeres Leben einzusetzen. Das ist es, was wir heute brauchen.

Was muss DiEM25 Ihrer Meinung nach tun, um Gesellschaft und Politik in der Türkei zu beeinflussen?

Im Jahr 2019 war DiEM25 in der Türkei recht aktiv. Die Bewegung hatte viele Anhänger:innen und Mitglieder in Istanbul, Ankara und Izmir. Allerdings hatte die Pandemie unvermeidliche negative Auswirkungen, auch wenn die Online-Kommunikation so weit wie möglich fortgesetzt wurde. Die Türkei hat 84 Millionen Einwohner:innen, davon 50,13 % Männer, 49,87 % Frauen und schätzungsweise 5 Millionen Flüchtlinge oder Emigrant:innen! Die Bevölkerung ist nicht homogen; die religiösen, ethnischen und ideologischen Gräben sind immens.

Wie Sie sich vorstellen können, wird es nicht einfach sein, in diesem heterogenen Gefüge politische Sichtbarkeit zu erlangen. Um die Menschen zu informieren, Mitglieder zu gewinnen und effektiv zu sein, brauchen wir gut durchdachte Strategien. Im Moment besteht die wichtigste Strategie darin, ideologisch nahestehende Gruppen zu überzeugen.

Gibt es progressive Bewegungen und/oder politische Parteien in der Türkei, mit denen DiEM25 in Kontakt treten sollte?

Die Wahlen werden schon bald stattfinden, wahrscheinlich im Herbst 2022. Das bedeutet, dass DiEM25 eine ernste Aufgabe vor sich hat. Idealerweise sollte die Bewegung mit Oppositionsparteien kommunizieren und zusammenarbeiten, sofern diese demokratische Ziele verfolgen. Und das Manifest von DiEM25 sollte ihnen auch vorgelegt werden.

Gemessen an diesem machiavellistischen Vorschlag ist die Realität jedoch enttäuschend. Schauen Sie bei Wikipedia nach. Wenn Sie sich die Tabelle ansehen, werden Sie feststellen, dass die meisten Parteien rechts, Mitte-Rechts oder Mitte-Links sind. Nur die Arbeiterpartei scheint radikal genug zu sein. Aber ich habe keine Ahnung, ob diese Partei DiEM25 überhaupt kennt. Im Einklang mit den soziopolitisch-psychologischen Gegebenheiten des Landes ist die Landkarte der politischen Parteien voll von modernistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts. Die Frage ist: Ist es einfach, diese Parteien ins 21. Jahrhundert zu führen und die kommenden Gefahren zu erklären, die im Manifest von DiEM25 dargelegt werden?

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Beral Madra ist Kunstkritikerin, Kuratorin, Ehrenvorsitzende der AICA Türkei und Mitglied des Koordinationskollektivs von DiEM25

Foto von Anna Berdnik auf Unsplash

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Sechs Jahre DiEM25: Woher sind wir gekommen, wohin gehen wir als Nächstes?

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Schließ Dich uns diesen Mittwoch um 18:00 MEZ an, wenn wir zurückblicken auf sechs Jahre DiEM25!

Woher sind wir gekommen, wohin gehen wir als Nächstes? Wir sprechen über die Geschichte unserer Bewegung bis zu diesem Moment, mit Fokus auf unseren Fehlern und den Lektionen, die wir daraus gelernt haben. Im zweiten Teil sprechen wir über die Zukunft; über DiEM25s globale Ziele und wie sie sich seit 2016 verändert haben, darüber, wie wir diese Ziele erreichen, und über Aussichten für die Zukunft!

Unser Forum, einschließlich Yanis Varoufakis und dem Rest unseres Teams, nimmt sich dieser Themen an und beantwortet Deine Fragen.

 

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Wahlen in Portugal: bekämpft die Oligarchie oder es wird sich nichts ändern

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Ein weiterer Wahlzyklus steht bevor. Diesmal gegen den Willen der Mehrheitsmeinung. Die Öffentlichkeit sieht keinen Sinn darin. Die Wahlen werden als Ergebnis zynischen politischen Kalküls betrachtet, das nicht den Wünschen der Nation entspricht.

Und nun werden diese Klagen von einem Medienrummel um politische Debatten zwischen Parteiführer:innen und Kandidat:innen in den Hintergrund gedrängt. Das Wiedererstarken der extremen Rechten war der notwendige Katalysator, um die politischen Parteien von ihren drängendsten Sorgen abzulenken. Sorgen über Prekarität, Gesundheit, Wohnen, die Wirtschaft und viele andere Dinge.

Auf diese Weise wird die Wahl als ein Wettstreit der Persönlichkeiten und persönlichen Motivationen inszeniert. Die Entscheidungsfindung hängt schließlich von emotionalen Affinitäten und vagen klubistischen Parteiloyalitäten ab. Und so treten Themen wie Herrschaftsmechanismen, Ausbeutung, wachsende Ungleichheit und der Verlust von Souveränität in den Hintergrund.

Es kann nicht genug betont werden, wie schädlich die Besessenheit der Medien mit der Personalisierung von Kampagnen ist. Sie reduziert diese Geschehnisse zu einer Flut von Kommentator:innen, endlosem Kommentieren und der Benutzung des Jargons der Kampfkünste und der Kriegsführung.

Sie verewigen damit die giftige „sebastianistische“ Kultur der “großen Männer” und Politiker, als würden diese als Einzige den Schlüssel zu unserem gemeinsamen Wohlstand in der Hand halten. Wie Trump während seiner Präsidentschaftskampagne sagte: ‘Nur ich kann das System reparieren’.

Dennoch gibt es ein Thema, das aus den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Parteiführer:innen hervorsticht. Ein Thema, das von den Kandidat:innen der großen Parteien oft verkündet wird: das politische Primat des Pragmatismus.

Vorsicht und Pragmatismus sind wesentliche Instrumente der Politik. Das gilt umso mehr, je höher das Amt ist, das man bekleidet. Aber  die modernen sozialdemokratischen Parteien neigen dazu, sie zu Grundprinzipien zu erheben. Und wenn Mäßigung als Prinzip und nicht als Werkzeug verstanden wird, wird sie zum Hindernis für die gewünschten Ziele.

Man könnte die Vermutung anstellen, dass die schlechten Ergebnisse der Wohnungsbaupolitik der letzten Regierungen der Sozialistischen Partei in Portugal, denen es nämlich nicht gelungen ist, den schwindelerregenden Anstieg der Wohnungskosten zu stoppen, nicht unbedingt das Ergebnis eines zynischen, propagandistischen Kalküls sind.

Es wurden Versprechungen gemacht, ohne dass die Absicht bestand, diese auch einzuhalten. Nicht aus ideologischen oder anderen ruchlosen Motiven, sondern eher aus praktischen Erwägungen heraus. In Anbetracht der enormen Aufgabe, die auf die Gouverneur:innen zukommt, die versuchen, der hegemonialen Immobilienlobby entgegenzutreten.

Ob im In- oder Ausland, die Immobilienhydra und ihr spekulativer Ansturm lassen selbst die mutigsten Politiker:innen zurückschrecken. Wir sehen, wie Pragmatismus von Machthaber:innen missbraucht wurde, die ihn zu ihrem Grundsatz gemacht haben. Das Versäumnis, dieses Problem anzugehen, untergräbt die tapferen Bemühungen in anderen Bereichen. Man muss sich nur ansehen, wie der brutale Anstieg der Lebenshaltungskosten jeden Gewinn aus einer Erhöhung des Mindestlohns bei Weitem übersteigt.

Es ist notwendig, der Immobilienoligarchie entgegenzutreten, um die Früchte eines progressiven politischen Programms zu ernten. Da die Spekulationskrake alles um sich herum verseucht hat, muss der Pragmatismus weichen, wenn andere Maßnahmen wirksam sein sollen.

In dieser Kampagne ist häufig das Argument zu hören, dass ohne politische Stabilität die Chance einer ganzen Generation vertan wird. Und, dass die progressive Verwaltung der europäischen Fonds zur Bekämpfung der Covidpandemie behindert wird. Aber selbst im besten Fall dürfen wir nicht vergessen, dass wir unter der bekannten ethischen Ägide des “Sozialismus für die Reichen und des wilden Individualismus für alle anderen” leben. Was können wir angesichts der Bilanz der “grünen Investitionen” in Portugal wirklich erwarten?

Es ist lobenswert, dass Portugal einen Großteil seiner Energieressourcen durch erneuerbare Energien erzeugt. Aber zu welchem Preis? Indem hunderte Millionen an jährlichen Profiten verloren wurden, weil REN und EDP aus der öffentlichen Hand entfernt wurden. Und durch die Belastung der Portugies:innen mit den Mieten aus den ÖPPs an dieselben Oligarch:innen, die die Umsetzung der “europäischen Fonds” überwacht haben.

Das Verfahren für die Zuweisung der Mittel des RRP, selbst der Teil, der “grüne Investitionen” betrifft, wird weiterhin von der oligarchischen Logik beherrscht, die den Energiesektor weitgehend kontrolliert. So wie  hunderte  Millionen, die vor kurzem aufgrund von Gesetzen unbezahlt blieben, die von unserer Legislative beschlossen wurden, um der EDP einen großzügigen Steuerbonus von 110 Millionen zu gewähren. Welche Sicherheit haben wir, dass dieses großartige europäische Geschenk nicht langfristig mit einer viel höheren Rechnung enden wird, angesichts der berüchtigten Ergebnisse der Deals und PPP im Energie- und Straßensektor, um nur einige zu nennen?

Wenn politische Stabilität bedeutet, den derzeitigen Weg ohne grundlegende Änderungen  bei der Einnahme der Produktivitätsgewinne durch eine oligarchische Struktur fortzusetzen, stehen wir vor einem Paradoxon. Denn ein Weg, der in einer Sackgasse endet, kann nur zu Instabilität führen.

 

Die demokratische Quarantäne hat nicht erst gestern begonnen

Nach jeder Wahl geben die institutionellen Akteur:innen des Landes ihre ersten Erklärungen zur Wahlenthaltung ab. Manchmal sind sie optimistischer, was die Gesundheit des nationalen demokratischen Geistes angeht. Manchmal eher pessimistisch. Aber wir wissen, dass der Trend Jahr für Jahr nicht ermutigend ist. Es gibt immer noch große Teile der Bevölkerung, die dem Wahlprozess fern stehen. Unbeteiligt oder desinteressiert. Die Ärmsten, die Jüngsten, die Älteren und die Nachkommen von Einwander:innen. Es ist ein Paradox, auf das niemand eine Antwort zu finden scheint. Warum sind diejenigen, die am meisten von den Ungerechtigkeiten des Systems betroffen sind, diejenigen, die am wenigsten Hoffnung in die Entscheidungsmechanismen der Gesellschaft setzen? Ist das ein Feature oder ein Bug?

Vor diesem Hintergrund nehmen die wiederholten Äußerungen über die Gesundheit der Demokratie verhängnisvolle Konturen an. Sind es nicht gerade die Verfasser:innen dieser Äußerungen, die als politische Klasse den schleichenden Verfall der Demokratie zu verantworten haben?

Bei den nächsten Wahlen ist es keineswegs unerheblich, welche Kandidat:in oder welche Parteienkonstellation die Mehrheit haben wird. Die relative Stärke der verschiedenen Parteien kann sehr unterschiedliche Koalitionen erzwingen. Andererseits bedeutet die Möglichkeit, dass es keine Einigung auf eine Koalition gibt, dass es wieder Neuwahlen geben könnte. Wie der Elefant im Zimmer, den alle ignorieren wollen.

Das Gleiche gilt für ein anderes Gespenst, das nicht angegangen wird. Möglicherweise ist es das größte Hindernis für die Zukunftsperspektive des Landes. Nämlich der derzeitige restriktive Konsens der europäischen Elite. Das berüchtigte Sparen und das „regressive Dogma“, das in den kommenden Zeiten mit neuer Intensität wieder auftauchen dürfte.

Deshalb kann nur eine progressive paneuropäische Basisbewegung inmitten der Verwirrung dieses Wahllabyrinths eine gewisse Klarheit bewahren. Nur ein radikales Programm wie der Green New Deal for Europe kann wirklich als pragmatisch bezeichnet werden.

Das Foto zeigt den Moment, als der Staatshaushalt für 2022 im portugiesischen Parlament abgelehnt wurde. Quelle: Wikimedia Commons.

Miguel Gomes ist Mitglied des Kollektivs von Setúbal von DiEM25.

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Atomkraft ist nicht grün

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Um es klar zu sagen: Atomkraft ist nicht grün. Und sie kann es auch nicht sein. Sie ist weder ein gutes Ziel, noch eine Übergangslösung.

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum wir glauben, dass progressive Menschen in ganz Europa und der Welt sich heute gegen die Atomkraft als falschen und gefährlichen Heilsbringer organisieren sollten.

Erstens: Die Risiken sind enorm. Jederzeit, vor allem angesichts der zunehmenden klimatischen Unwägbarkeiten, ganz zu schweigen von menschlichen Fehlern, können Schäden in Kernkraftwerken zu Katastrophen wie in Fukushima oder Tschernobyl führen. Kernreaktoren sind im besten Fall so ausgelegt, dass sie einem einzigen Erdbeben mit einer Stärke von maximal 7,0 auf der Richterskala standhalten. Bei mehreren kleineren Beben – oder Schäden an der umliegenden Infrastruktur – wird das Kraftwerk jedoch zerstört. Aufgrund des vom Menschen verursachten Klimawandels müssen wir mit steigenden Meeresspiegeln, Wirbelstürmen und anderen Klimakatastrophen rechnen. Wir können nicht erwarten, dass die Erde in diesen unsicheren Zeiten stillsteht.

Zweitens sind verbrauchte Brennstäbe aus Kernkraftwerken radioaktive Abfälle. Sie werden oft am gleichen Ort wie der Reaktor gelagert. Diese radioaktiven Abfälle müssen mindestens 200.000 Jahre (!) aufbewahrt werden, und je mehr Atommüll vorhanden ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Lecks kommt. Dies kann Menschen, nichtmenschliche Tiere und den Planeten selbst schädigen.

Können wir unseren Regierungen in dieser Frage wirklich trauen? Wie groß sind die Chancen, dass der bereits erwähnte Fall von Fukushima, bei dem die Behörden beschlossen, mehr als eine Million Tonnen radioaktiver Abwässer in den Pazifischen Ozean zu leiten, nicht überall auf der Welt nachgeahmt wird? Und wie können künftige Generationen – in, sagen wir, 1.000 oder 10.000 Jahren – wissen, welche gefährlichen Stoffe wir tief im Boden des Planeten Erde vergraben haben? Atommüll ist ein klarer Fall von Auslagerung der nuklearen Katastrophe in die Zukunft, während die Regierungen und Konzerne keine Konsequenzen tragen.

Drittens kostet neue Atomenergie pro kWh etwa viermal so viel wie Wind- und Sonnenenergie und sie ist keineswegs erneuerbar. Im Vergleich zu Windkraftanlagen verursacht sie 13-mal mehr Emissionen pro erzeugter Stromeinheit. Außerdem haben wir einfach keine Zeit für einen gerechten Übergang zu kohlenstofffreiem Strom, wenn wir ihn mit Kernenergie anstreben.

Der Bau eines Kernkraftwerks dauert zwischen 10 und 19 Jahren, wobei die meisten, wenn nicht alle, hinter dem Zeitplan zurückbleiben und das Budget astronomisch überschreiten. Würden wir die Energiemenge aus Kernkraftwerken verdoppeln, lägen die direkten Baukosten in der Größenordnung von – 4’410’000’000’000 US$ – oder kurz gesagt 4,41 × 1012. All diese – wahrscheinlich öffentlichen – Gelder werden an eine Reihe ausgewählter globaler Unternehmen fließen, um den Anteil an der weltweiten Kernenergieproduktion von 10 % auf 20 % zu erhöhen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Brennstoff für die Kernenergie letztlich abgebaut werden muss. Der Uranabbau ist jedoch gefährlich. Und im Gegensatz zu erneuerbaren Energiequellen (z. B. Silber für Windkraftanlagen) muss es ständig abgebaut werden. Außerdem bringt der Uranabbau eine ganze Reihe von Bergbaukrankheiten mit sich, ganz zu schweigen davon, dass er eine Form des Neokolonialismus darstellt (Abbau wertvoller Mineralien und Zerstörung des Planeten und der lokalen Gemeinschaften).

Wir sollten bedenken, dass “zivile” Kernenergieprogramme das für Kernwaffen benötigte Plutonium und Tritium liefern und in der Vergangenheit für militärische Ziele genutzt wurden. Die “zivile” Nuklearindustrie wird in den Vereinigten Staaten als Rückgrat der “nationalen Sicherheit” gefeiert, da sie einen ständigen Strom von “Talenten” und technischen Wunderwerken liefert, um die Hegemonie der USA auf unserem Planeten zu erhalten. Im Vereinigten Königreich haben Forscher:innen der Universität Sussex “versteckte Abhängigkeiten der U-Boot-Industrie von zivilen Nuklearprogrammen” aufgedeckt und aufgezeigt, wie die Allgemeinheit “militärische Nuklearinfrastruktur” subventioniert.

Will man das Kapitel Atomwaffen für die Menschheit abschließen, muss man auch den Hauptbrennstoff abschaffen. Der Ausbau von Kernkraftwerken steht daher im Widerspruch zu dieser Vision. Wir können nicht gleichzeitig ein Ende der Atomwaffen fordern und den Ausbau der Atomenergie auf unserem gemeinsamen Planeten unterstützen.

Nicht zuletzt kann Atomenergie nicht als Teil der Gemeingüter geschaffen werden, da ein hoher Bedarf an Fachwissen, Sicherheit und komplizierten Wegen zur Erlangung von Genehmigungen besteht. Dies führt dazu, dass das Geld direkt in die Hände von Oligarch:innen fließt, denen man nicht trauen kann.

Geld und die gesamte Überwachung, die notwendig wäre, um dies unter Kontrolle zu halten, in den Händen einiger weniger Leute, die in der Lage sind, Kernkraftwerke zu bauen. Eine vollständig überwachte Oligarchie, was kann da schon schiefgehen?

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