Für DiEM als pan-europäische und transnationale Bewegung ist die emanzipatorische Kritik eines jeden Nationalismus essenziell, sie ist eine Frage schlicht des Prinzips und insoweit undiskutierbar. Das aber heißt gerade nicht, dass wir uns in den breiten Chor derjenigen einreihen, die in der dramatischen Krise des Spanischen Staates allen Beteiligten gleichermaßen „Fehler“ zuschreiben. Der Zentralregierung in Madrid, weil sie „überreagiere“, ihren bewaffneten Kräften, weil sie „unverhältnismäßig“ vorgegangen wären, der katalanischen Regierung, weil sie „nationalistisch“ und also die eigentliche Verursacherin der Krise sei. So einfach aber liegen die Dinge nicht.
Uns liegt zunächst am Herzen, ein weiteres Mal das vollständige und auch in diesem Fall infame Versagen der Europäischen Kommission und der Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten festzuhalten. Dabei ist die Zurückweisung der Bitte der katalanischen Regierung, im Konflikt mit dem Spanischen Staat und seiner Polizeigewalt eine Vermittlungsrolle einzunehmen, nur die letzte Bestätigung dieses Versagens und dieser Infamie: Tatsächlich wäre die Europäisierung der katalanische Frage in sich selbst schon der Ansatz ihrer progressiven Beantwortung gewesen. Die Kommission aber erklärt den Konflikt zu einer „inneren Angelegenheit“ Spaniens und ergreift damit endgültig und ausweglos die Partei des Regimes in Madrid. Sie bekräftigt damit die Parteinahmen der Regierungen der EU-Staaten, die sich zuvor schon an die Seite des Spanischen Staates gestellt hatten. Der Haltung der Kommission und ihrer Regierung liegt nichts als das Kalkül zugrunde, Politik auf bedingungslose Herrschaftssicherung zu reduzieren. Dabei kommen Madrid, Brüssel, Paris und Berlin auch darin überein, das Kalkül der Herrschaftssicherung primär auf eine paramilitärisch entgrenzte Polizeigewalt zu gründen: Mit dem gewaltsamen Angriff auf die Massenproteste gegen den Hamburger G20-Gipfel hat Berlin hier ein weiteres Mal die Marschrichtung vorgegeben, Paris sekundiert der Gewalt im auf Dauer gestellten Ausnahmezustand.
Aus der Perspektive der über 900 Menschen, die von den uniformierten Totschlägertrupps Rajoys brutal verletzt wurden, ist das einzig legitime Urteil über die spanischen Verhältnisse in dem Satz „Spanien ist tot“ gefällt, mit dem der Schriftsteller Albert Sanchéz Piñol das Geschehen kommentiert hat. Angesichts der Komplizenschaft der EU und ihrer Regierungen mit dem über Tage hinweg fortgesetzten Polizeiterror und dem millionenfachen Raub des Rechts auf die Freiheit der politischen Wahl und des Rechts der freien politischen Äußerung fügen wir hinzu: „Diese EU ist tot.“
Zu kritisieren ist nicht nur der Spanische Staat, der mit seinem Vorgehen noch einmal eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, nach wie vor in Kontinuität zum Franquismus zu stehen. Zu kritisieren ist auch nicht nur die Komplizenschaft der EU und ihrer Regierungen zum postfranquistischen Regime. Zu kritisieren ist darüber hinaus und nicht zuletzt die subjektive Loyalität der spanischen Mehrheitsgesellschaft zu ihrem Regime. In ihr liegt das eigentlich politische, deshalb auch das am Schwersten zu lösende Problem dieser Krise und vieler anderernKrisen: das Problem der freiwilligen Knechtschaft der Meisten, und das Problem der Gewalt der Knechte gegen die, die keine Knechte mehr sein wollen.
Das schließt die Teile der spanischen (und nicht nur der spanischen) Linken ein, die das Regime in Madrid nur insoweit kritisieren wollten, als sie die Bewegung für das Referendum im selben Zug zur Anerkennung der Einheit des Spanischen Staates und damit zur Unterwerfung unter seine Gewalt aufgefordert haben. Zu kritisieren sind dabei auch die allesamt scheinheiligen Argumente dieser Linken: der Verweis auf die „kleinbürgerliche“ Grundierung der Bewegung, auf die vorgebliche „Verdeckung“ der vorgeblich allein relevanten „sozialen Frage“ und, last but not least, die Kritik am katalanischen Nationalismus. Alle diese Argumente wiederholen im Blick auf die katalanische Frage, was spanische Linke auch zur baskischen Frage sagen. Sie wiederholen, was türkische Linke im Blick auf die kurdische, französische Linke im Blick auf die korsische, britische Linke im Blick auf die irische und schottische, israelische Linke im Blick auf die palästinensische, singhalesische Linke im Blick auf die tamilische Frage sagen. Sie wiederholen, was die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi als Verteidigerin der Einheit des Staates Myanmar zum Niedermetzeln der Minderheit der Rohingya sagt. Sie alle ergreifen in ihren Nationalismus-, bzw., genauer gefasst, in ihren „Separatismus“- und „Sezessionismus“-Kritiken die Partei ihrer jeweiligen Mehrheitsgesellschaft und damit die Partei ihres Staates. Sie ergreifen damit die Partei schlechthin des Staates, die Partei der um (fast) jeden Preis zu sichernden Einheit des Staates und folglich der Staatsgewalt. Daran ändert sich nichts, wenn die Staatsbejahung nicht in nationalen, sondern in sozialen Kategorien begründet wird: um Mehrheitsentscheidungen geht es in beiden Fällen. Das ist es, dem wir uns prinzipiell widersetzen.
Aus demselben Grund ist die katalanische Frage für uns keine nationale und damit auch keine Frage eines nationalen Staates, sondern eine Demokratiefrage. Sie stellt sich nicht nur in jeder real existierenden, sie stellt sich auch in jeder möglichen Demokratie, sie ist die Demokratiefrage schlechthin, die unvermeidliche Selbst-Infragestellung jeder Demokratie. Sie stellt sich, solange die Demokratie staatlich verfasst sein wird, und sie stellt sich, solange die Demokratie sich in Mehrheitsverhältnissen feststellt. Sie artikuliert das Selbstverteidigungsrecht der Minderheiten, und sie konkretisiert dieses Recht als Recht auf Separation und Sezession. Der letzte Schritt ist essenziell, weil das das Selbstverteidigungsrecht der Minderheit erst als Recht auf Separation oder Sezession praktisch wird. Das Recht auf Separation oder Sezession wird deshalb augenblicklich auch und gerade in einem katalanischen, kurdischen, korsischen, irischen, schottischen, palästinensischen, tamilischen Staat oder in einem Staat der Rohingya zum essenziellen Recht seiner Minderheiten und damit zum Prüfstein der Demokratie.
Das Selbstverteidigungsrecht der Minderheiten bewährt sich allerdings nicht nur als Recht auf Separation und Sezession aus Mehrheit, Nation und Staat, es bewährt sich auch und im selben Zug als Recht auf die Überschreitung von Nation und Staat in globaler, praktisch zunächst in kontinentaler Perspektive, für uns also in europäischer Perspektive. Die Überwindung der immer und ausnahmslos gewaltbewehrten Einheit von Mehrheit, Nation und Staat wird zugleich im Großen wie im Kleinen anzugehen sein: im Gang in weiteste Fernen und nächste Nähen zugleich. Sie ist insofern eine Sache der Stadt als der Kosmopolis, und sie ist die Sache einer Föderation von Städten als einer kosmopolitischen Föderation: einer Föderation von Einzelnen. Das Gute ist, das im Kosmopolitischen Weg und Ziel immer schon zusammenfallen. Spanien ist tot, diese EU ist tot.
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