Es war Mitte der 1990er Jahre und Berlin befand sich in einer Haushaltskrise. Neoliberalismus war die vorherrschende Ideologie, welche Unternehmergeist als neues Mantra für die Stadtentwicklung vorsah und strukturelle urbane Reformen predigte, um Städte zu attraktiven Standorten für internationale Investoren zu machen. Dies war das wirtschaftspolitische Umfeld, in dem die Privatisierung des öffentlichen Wohnungsbestands der Stadt als unproblematisch dargestellt wurde.
Jahre später hat sich herausgestellt, dass dieses Konzept ein massiver Fehlschlag war. Es führte zu einem exponentiellen Anstieg der Mieten, von dem vor allem Haushalte mit niedrigem Einkommen betroffen waren, ohne dass der Wohnungsbestand verbessert wurde.
Im Januar 2019 beschloss die Stadtregierung angesichts der explodierenden Mieten und unter dem Druck sozialer Bewegungen eine fünfjährige Mietpreisbremse (2020-2025), trotz des heftigen Widerstands der Vermieter und der ablehnenden Haltung der Bundesregierung von Angela Merkel. Der sogenannte Mietendeckel wurde im Januar 2020 verabschiedet und trat am 23. Februar 2020 in Kraft. Er hatte nicht lange Bestand: Im April 2021 erklärte das höchste deutsche Gericht ihn für verfassungswidrig.
Doch die Bürgerinnen und Bürger ließen sich nicht beirren. Das bereits seit 2018 laufende Volksbegehren “Deutsche Wohnen & Co enteignen” für die Enteignung von Großvermietern erhielt massiven Auftrieb. Der Vorschlag würde 240.000 Wohnungen sozialisieren, die sich im Besitz von zwölf großen Immobilienkonzernen befinden, die jeweils mehr als 3.000 Wohnungen im Land Berlin im Bestand haben.
Großunternehmen als Vermieter in einer ungleichen Eigentumsstruktur
Es ist seltsam, wie normalisiert die Arbeitsweise von Spekulanten geworden ist. Investmentfonds, Banken, Versicherungen und andere professionelle Finanzmarktakteure: Das sind einige der Akteure, die weltweit massiv in Gewerbeimmobilien investieren, aber auch auf dem Wohnungsmarkt aktiv sind – erst recht nach dem Finanzkollaps von 2008, der dem Großkapital nie dagewesene Möglichkeiten eröffnete, billig zu kaufen, zu reparieren und zu einem viel höheren Preis wieder zu verkaufen.
Der Berliner Wohnungsmarkt erwies sich für diese Unternehmen als äußerst attraktiv, da eine zusammenbrechende Immobilienstruktur die Möglichkeit bietet, aus der Mieteinnahme Gewinne zu erzielen. Was das Schema “kaufen, reparieren, verkaufen” betrifft, wurde der Teil “reparieren” einfach ignoriert. Im Jahr 2019 belief sich die Gesamtzahl der Immobilien, die sich im Besitz der größten Wohnungskonzerne befinden, auf 240.000, die alle nach 2000 privatisiert wurden und immer noch zerfallen.
Diese Unternehmen verzerren die ohnehin schon extrem volatile und spekulative Immobilienstruktur Berlins auf Kosten der Mieterinnen und Mieter. Ein Bericht der Rosa Luxemburg Stiftung aus dem Jahr 2019 hat dazu folgende Daten erhoben:
- 16,5% des Gesamtbestandes gehören Finanzmarktinvestoren,
- 25,1% verteilen sich auf große private Eigentümer,
- 17% verteilen sich auf kleine Immobilieneigentümer,
- 16% gehören den sechs landeseigenen Wohnungsunternehmen Berlins,
- 15,3% gehören Hauseigentümern mit einem oder zwei Objekten, und
- 10% gehören Wohnungsgenossenschaften.
- Weitere 20.000 gehören der Kirche und gemeinnützigen Stiftungen.
Es wird schwer sein, eine Forderung zu ignorieren, die von einer so deutlichen Mehrheit gestellt wird.
Die Gegner
Vor dem Volksentscheid hat die SPD-geführte Berliner Regierung schätzungsweise 15.000 Wohnungen von der Deutsche Wohnen, dem größten Unternehmen auf dem Berliner Wohnungsmarkt, zurückgekauft. Einige Medien verkündeten dies als Sieg der Bevölkerung und als Zugeständnis der Regierung. Beides ist falsch.
Der Kauf wurde zum Hauptargument der Regierung gegen das Volksbegehren, da es nun unnötig sei, weil die Politik bereits ihre Aufgabe der Rekommunalisierung von Immobilien erfüllte. Außerdem kaufte die Stadt diese Immobilien zum Marktpreis zurück, obwohl ihr Zustand schlechter war als vor der ursprünglichen Privatisierung. Dies war keine Enteignung, sondern eine staatliche Intervention zugunsten des Großkapitals.
Die Kampagne hat ihrerseits die Bedeutung von Enteignung klar dargelegt, insbesondere im Hinblick auf Artikel 15 des Grundgesetzes, der besagt, dass “Grund und Boden […] zum Zwecke der Vergesellschaftung […] in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden” können.
Von den Gegnern der Enteignung – also CDU, SPD und FDP – wurden zwei Hauptargumente angeführt. Das erste ist, dass Enteignung Investoren abschreckt, indem sie den Eindruck erweckt, dass der Staat möglicherweise noch weiteres Eigentum beschlagnahmen will. Was würde nach dem Wohnungsbestand als nächstes sozialisiert werden?
Zweitens argumentieren sie, dass der Vorschlag auch eine Enteignung von Wohnungsgenossenschaften bedeuten würde. Die Kampagne besteht ihrerseits darauf, dass Genossenschaften dem öffentlichen Interesse dienen, indem sie angemessenen Wohnraum zu niedrigen Preisen bereitstellen, und daher von dem Vorschlag ausgenommen sind.
Die Schwachstellen
Schätzungen zufolge war ein Viertel der Bevölkerung nicht wahlberechtigt: Berlinerinnen und Berliner ohne EU-Staatsbürgerschaft. Dies erklärt zum Teil, warum trotz der hohen Wahlbeteiligung in realen Zahlen und des hohen Anteils der Befürworter des Referendums (59,1 %) die Wahlbeteiligung angesichts der Tatsache, dass 84% der Gesamtbevölkerung der Stadt zur Miete wohnt, niedrig blieb. Viele dieser Mieterinnen und Mieter, die in renovierungsbedürftigen, baufälligen Wohnungen leben, hatten einfach kein Wahlrecht.
Das Kollektiv “Right to the City”, eine englischsprachige Arbeitsgruppe von Deutsche Wohnen & Co enteignen, hat versucht, diese Menschen in die Kampagne einzubeziehen. Obwohl sie betonen, dass sie nicht im Namen aller migrantischen Gruppen in Berlin sprechen können, versuchen sie, die Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten beim Zugang zu Wohnraum sichtbar zu machen und so die Kampagne vielfältiger zu gestalten.
Es gibt auch keine einzige, ausgereifte und aktive Mietergewerkschaft, die den für einen lang anhaltenden Kampf gegen die Vermieter erforderlichen Organisationsgeist aufbringen könnte, und das trotz der niedrigen Wohneigentumsquote. Der Berliner Mieterverein mit seinen 180.000 Mitgliedern leistet kaum mehr als Rechtshilfe für Vereinsgenossinen und -genossen. Im Jahr 2020 wurde die Mieter:innengewerkschaft Berlin (MGB) gegründet, die eine kämpferischere Mission hat: Sie soll eine langfristige Basis für die Organisierung schaffen, neue Wege der Auseinandersetzung um Wohnraum wie direkte Aktionen und Mietstreiks erproben, die Rechte der Mieterinnen und Mieter, aber auch die Mietervertretung schützen und Wissen zum Zweck der Selbstermächtigung der Mieterinnen und Mieter teilen. Die MGB strebt radikalere Aktionen an, aber es ist noch ein langer Weg zu gehen.
Organisieren, überzeugen, enteignen!
Die Gegenargumente reichten nicht aus, um die Welle der Wut der Bürgerinnen und Bürger zu brechen, die sich nach Jahren der Spekulation und Ausbeutung auf Kosten der Armen entlud.
Dies war der tadellosen Organisation der Kampagne zu verdanken, die die Verleumdungen zunichte machte. Das Hauptorganisationsgremium, das in erster Linie mit der Verwaltung der (aus freiwilligen Beiträgen stammenden) Mittel betraut war, gewährleistete den Zugang zu Entscheidungsprozessen für alle beteiligten Mitglieder. Die wichtigsten ausführenden Organe waren auf Stadtteilebene organisiert und in Untergruppen unterteilt (für rechtliche Unterstützung, Sensibilisierung, kollektive Beteiligung usw.), während die gesamte Kampagne nicht auf groß angelegte, zentrale Proteste ausgerichtet war, sondern auf lokale, dezentrale Aktionen, die von Aktionsgruppen an der Basis organisiert wurden.
Gegenden, die von Misstrauen gegenüber der neuen Linken geprägt sind und eine starke Präsenz der Rechten aufweisen, wie z.B. der Bezirk Marzahn – ein Arbeiterviertel, aber eine Hochburg der rechtsextremen AfD – wurden von gut geschulten Aktivistinnen und Aktivisten in Angriff genommen, die sich die teils schwierige Aufgabe gestellt haben, sich auf die Anwohnerinnen und Anwohner einzulassen und zur Bewusstseinsbildung für die Ziele der Kampagne vor Ort beizutragen. So machten es sich beispielsweise Kollektive aus dem garantiert abstimmungsfreundlichen Stadtteil Friedrichschain zur Aufgabe, mit ihren Aktionen vor Ort in Marzahn Informationslücken zu schließen.
Insgesamt stimmten 1.035.950 Menschen (59,1%) für die Enteignung und 715.698 (40,86%) dagegen. Zentrale Bezirke wie Kreuzberg und Friedrichshain stimmten mit überwältigender Mehrheit mit “Ja”, ebenso wie die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in Marzahn.
Nur in zwei Bezirken gab es eine Mehrheit gegen die Enteignung: Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf, beides CDU-Hochburgen mit einem hohen Anteil an eigenem Wohnbesitz.
Das Volksbegehren fordert ausdrücklich die Enteignung des Bestandes unter Marktpreisen.
Der Trotz der Wohnungskonzerne und die strategisch schwer fassbare Forderung der Kampagne
Am Montag, einen Tag nach dem Referendum, übertrug die Firma Akelius ihr Berliner Portfolio mit 13.700 Wohnungen auf Heimstaden. Am selben Tag erwarb Vonovia, das zweitgrößte Unternehmen der Branche, eine Mehrheitsbeteiligung an der Deutsche Wohnen-Aktie.
Dieser Kauf erfolgte aus zwei Hauptgründen. Erstens glaubt Vonovia, dass die Enteignung nicht stattfinden wird. Zweitens hofft Vonovia, dass die Stadt im Falle einer Vergesellschaftung von Wohnungen diese zu Marktpreisen veräußern wird, so dass eine solche Transaktion sehr profitabel wäre. Dies würde gegen den Kern des Volksbegehrens verstoßen, das ausdrücklich die Enteignung der Bestände zu Preisen unter dem Marktwert fordert.
Das Referendum wurde nicht mit einem vorgefertigten Gesetzesentwurf der Befürworter verbunden. Das liegt daran, dass 2014 ein ähnliches Gesetz, das zur Abstimmung stand, juristisch auseinandergenommen wurde, was zur Absage der gesamten Kampagne führte. Dieses Mal zogen die Organisatoren einen anderen Ansatz vor, um die Durchführung des Referendums nicht zu gefährden. Die Stadtregierung ist also dafür verantwortlich, den Text des Referendums in ein Gesetz zu verwandeln.
Mehrere Ausschüsse des Bundestags und des Berliner Senats bestätigen, dass das Enteignungsbegehren rechtsgültig und mit der Verfassung vereinbar ist. Wird dem Begehren buchstabengetreu gefolgt, werden die Unternehmen dennoch entschädigt, allerdings nicht zu Marktpreisen. Der Staat muss dann die Entschädigung festlegen und entscheiden, wer den Sozialwohnungsbestand verwalten soll.
Viele Aktivistinnen und Aktivisten setzen ihre Hoffnungen auf die Bezirke, die eine Schlüsselrolle bei der Verhinderung von Zwangsräumungen und der Kontrolle der Mieten spielen. Die Bezirke, in denen progressive Stimmen stark vertreten sind, bieten in der Regel den stärksten Mieterschutz, da sie über zwei wichtige Instrumente verfügen:
- das Vorkaufsrecht, das den Bezirken das Recht einräumt, bei zum Verkauf stehenden Immobilien zuerst zuzuschlagen, sowie
- das Milieuschutzgebiet, das bedeutet, dass in den ärmsten Gebieten mit einer großen Zahl von Menschen, die sozialen Schutz benötigen, die Umwandlung eines Mietverhältnisses in Eigentum (hauptsächlich die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen) nicht ohne die Zustimmung des Bezirks erfolgen kann.
Aber die Campaigner haben genug Widerstand geleistet. Sie wollen die Umsetzung der Enteignung durchsetzen und setzen dabei auf die Bezirksebene und die örtlichen Abgeordneten, um den Willen der Bevölkerung im Senat der Stadt durchzusetzen.
Allerdings hat die skeptische SPD sowohl in der Stadt als auch auf Bundesebene die Mehrheit. Dennoch kann sie nicht allein regieren. Die Zusammensetzung der neuen Regierung, ob es sich um eine konservative oder progressive Koalition handelt, wird von zentraler Bedeutung sein.
Nach Angaben von Sprecherinnen und Sprechern der Kampagne kann das Gesetz bis zum Frühjahr 2022 ausgearbeitet werden, und die Enteignung wird zwischen neun und zehn Milliarden Euro kosten. Sollten ihre lokalen Vertreterinnen und Vertreter oder die Regierung versuchen, sie zu täuschen, werden sie ein neues Referendum initiieren, bei dem sie ihren 21 Seiten langen Gesetzesvorschlag zur Abstimmung stellen. Ein positives Votum würde bedeuten, dass der Vorschlag unter Umgehung des Parlaments zum Gesetz wird.
Was bedeutet das Ergebnis des Referendums für Kämpferinnen und Kämpfer gegen Wohnungsnot außerhalb von Berlin?
Die Entscheidung der Berlinerinnen und Berliner für die Enteignung von großen Immobilienkonzernen wird sicherlich ein Bezugspunkt für Bewegungen überall sein. Die Wohnungskrise wütet weltweit. Seit dem Finanzkollaps von 2008 frisst sich die Wohnungsnot in den Kern der Gesellschaften und verunsichert selbst diejenigen, die sich als Teil der Mittelschicht sehen und zuvor durch die vermeintliche Robustheit ihres Systems des sozialen Wohnungsbaus geschützt waren. Nun bricht auch dieses unter dem Druck von Finanzen und Spekulationen zusammen.
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