Die Besetzung der Habersaathstraße 46 hätte eine neue und mutige Wohnungspolitik einleiten können. Stattdessen entschied man sich für einen Kniefall vor dem Immobilienkapital.
Ein Kommentar von Timm Kühn
Im Zuge der Pandemie haben ja viele den Neoliberalismus für tot erklärt. Spätestens seit der Finanzkrise sei offensichtlich geworden, dass eine Gesellschaft nicht funktioniert, wenn man sie in ihrer Gesamtheit nach den Funktionslogiken des Marktes gestaltet. Man beschwor die Rückkehr des Staates und damit das Potenzial einer demokratischen Revitalisierung – künftig sollte Politik wieder von kollektiven Absprachen bestimmt werden, in denen sich das Gute, Richtige und Moralische herauskristallisiert.
Und für einige Stunden schien es Donnerstag tatsächlich so, als sei die Moral in die Wohnungspolitik zurückgekehrt. Dies war so, als wohnungs- und obdachlose Menschen sowie Unterstützer*innen von mietenpolitischen und sozialen Initiativen mehrere Wohnungen in der Habersaathstraße 46 in Berlin-Mitte besetzten. Plötzlich ging es wieder um ganz konkrete Fragen der Ethik: Wenn 10.000 Berliner*innen auf der Straße schlafen müssen, warum wird dann toleriert, dass Wohnungen als Finanzspekulationsobjekte leerstehen? Wie sollen sich obdachlose Menschen in Notunterkünften vor der Pandemie schützen, wenn sie dort mit über 50 Menschen in einem Raum schlafen müssen? Was wiegt mehr: Das Menschenrecht auf Wohnen oder die Profite der Investoren?
Die Sachlage schien eindeutig zu sein: Es geht um ein Gebäude, welches erst 2006 vom damaligen Finanzsenator Thilo Sarrazin (vormals SPD) von der Stadt verkauft wurde – 106 Wohnungen zum Traumpreis von zwei Millionen Euro. 2017 wurde das Gebäude dann erneut verkauft, dieses Mal für wohl 20 Millionen an die Arcadia Estates. Diese hatte erst Renovierungs- und Modernisierungspläne (welche die Miete der Mieter*innen verdoppelten würde), doch dann entschied man sich für Abriss und Luxusneubau: 91 Wohnungen und 46 Tiefgaragenplätze, laut Tagesspiegel zum Verkauf gedacht zu Preisen von 8000 bis 10000 Euro pro Quadratmeter.
Ein Musterbeispiel neoliberaler Wohnungspolitik also. Der sich bildenden Nachbarschaftsinitiative Habersaathstrasse wurde mit Abfindungen begegnet (zwischen 2000 und 30000 Euro für den freiwilligen Auszug), es liegen aber auch Berichte über Schikanen und Einschüchterungsversuche vor. Und so leerte sich das Haus zunehmend, wohl auch, weil im September 2018 Unbekannte das Auto des Sprechers der Anwohner*inneninitiative Theo Diekmann abfackelten.
Politisch begann man in der Zwischenzeit, sich von der völlig fehlgeleiteten Politik der Privatisierung zu lösen. Das Bezirksamt Mitte verwehrte der Arcadia Estates die Abrissgenehmigung auf Grundlage des verschärften Berliner Zweckentfremdungsverbotsgesetz. Im Falle eines Abrisses müsste nun gleichwertiger Wohnraum zur Miete von maximal 7,92 Euro nettokalt entstehen – für die Arcadia das Ende aller Wirtschaftlichkeit. Und seit Juni diesen Jahres strebt der Bezirk sogar offiziell die Rekommunalisierung an.
Doch bis gestern geschah nichts, weshalb es mehr als verständlich ist, dass die Obdachlosen die Sache nun selbst in die Hand genommen haben. Man plane eine Suppenküche und andere soziale Initiativen, ruft ein Mann aus dem Gebäude heraus. Da die Stadt die Wohnungen brauche, um Menschen ohne Wohnraum die Quarantäneverpflichtung zu ermöglichen, sei auch eine Beschlagnahmung rechtlich möglich – die teure Rekommunalisierung könnte also umgangen werden.
Und tatsächlich erklärt Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) öffentlich, dass er diese Möglichkeit prüfen lasse. Er sagt, die Räumung würde 24 Stunden ausgesetzt. Dies wird per Megaphon auf der Kundgebung durchgegeben, Jubel bricht aus. Ein erster Schritt, ein großer Erfolg. So geht Stadt von unten, so kann der Druck der Straße tatsächlich etwas bewirken. Man warte nur noch auf die Bestätigung der Polizei, heißt es, man wolle sichergehen, dass sich auch alle an die Linie des Bezirksbürgermeisters halten.
Wie es zu der Räumung kurze Zeit später kam, ist nicht näher bekannt. Doch Valentina Hauser von der Gruppe ‚Leerstand Hab-ich-Saath‘ hatte schon zuvor befürchtet, Innensenator Andreas Geisel (SPD) könnte die obdachlosen Menschen räumen lassen, weil auch rot-rot-grün „vor dem Immobilienkapital kuscht“. Der Verdacht steht im Raum, dass man Folgebesetzungen vermeiden will, um die Attraktivität des Investionsstandort Berlin nicht zu gefährden.
Jedenfalls dauerte es nur wenige Minuten, bis der Neoliberalismus zurückschlägt, materialisiert im Personal der Staatsgewalt. Die die Besetzung begleitende Kundgebung wird von der Straße auf den Bürgersteig gedrängt. Ein Polizeischeinwerfer wird aufgebaut, technische Unterstützung kommt. Das Gebäude wird geräumt, das Kapital gewinnt. Wie auch ‚Leerstand Hab-ich-Saath‘ spekuliert, hat sich Polizeipräsidentin Barbara Slowik offenbar dafür entschieden, dem Räumungsgesuch des Eigentümers mehr Gewicht einzuräumen als der Prüfung auf Beschlagnahmung durch den Bezirk. Nach Räumung und Gewahrsamnahme der besetzenden Personen wartet man sogar noch ab, bis ein privater Sicherheitsdienst die Bewachung des leeren Gebäudes übernimmt.
Offensichtlich gelten die Profite der Investoren doch mehr als das Menschenrecht auf Wohnen. Die obdachlosen Menschen sitzen also wieder in der Kälte. Und die Politik hat eine weitere Chance verpasst, endlich Mut zu beweisen: Mut, gegen den Ausverkauf der Stadt vorzugehen und neue Wege zu bestreiten, welche den Prinzipien der Demokratie wieder Vorrecht vor den Prinzipien der Märkte einräumen könnten. Und so bleibt es die Aufgabe der außerparlamentarischen Linken, weiterhin den Druck zu erzeugen den es benötigt, damit sich dieser Mut endlich irgendwo findet – weshalb sich die Räumung der Obdachlosen in der Habersaathstraße auch als Auftakt zum Diskussions- und Protestwochenende der ‚Interkiezionalen‘ lesen lässt, welche am folgenden Wochenende Veranstaltungen in ganz Berlin plante.
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Titelbild: Creative Commons (CC-BY-SA)
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