Die Perspektive der DiEM25-Bewegung
Eine Antwort auf Tariq Ali, Stathis Kouvelakis, Vicente Navarro und Stefano Fassina
Vorwort: Im vorliegenden Artikel soll auf die Kritik von linker Seite an der DiEM25-Bewegung eingegangen werden, wonach diese ein falsches Ziel (die Demokratisierung der EU) mittels einer nicht minder falschen Strategie (Fokus auf die europäische statt auf die nationalstaatliche Ebene) verfolgt. Meine Antwort richtet sich vornehmlich an linke Lexit-Befürworter (die analog zum Brexit auf die Strategie setzen, die Durchführung von Referenden zum EU-Austritt zu fordern), befasst sich aber auch mit Fragen, die häufig in jenen politischen Traditionen aufgeworfen werden, die DiEM25 im Kampf für die Demokratisierung Europas einen möchte. Zu diesen gehören authentische Liberale, Umweltschützer, Feministinnen, Mitglieder von Piratenparteien, nicht integrationswillige Aktivisten außerhalb der traditionellen Parteien und ja, sogar progressive Konservative.1
Innerhalb von 13 Monaten haben zwei Referenden nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch unter der europäischen Linken für Aufruhr gesorgt: das griechische „OXI“ (Nein) im Juli 2015 und der Brexit im Juni 2016. Müde vom autoritären Gebaren und dem wirtschaftlichen Versagen der EU, ruft ein Teil der europäischen Linken jetzt zu einem „Bruch mit der EU“2 auf, eine Haltung, die gemeinhin als Lexit bekannt ist.3 DiEM25, die transnationale Bewegung für Demokratie in Europa (Democracy in Europe Movement), weist die Logik der Lexit-Position zurück und bietet den progressiven Kräften in Europa eine alternative Agenda.
Zweifelsfrei hat die Linke die Pflicht, mit all ihrer Kraft und Fantasie der EU-Praxis der Entpolitisierung der politischen Entscheidungsfindung entgegenzutreten.4 Die Frage ist dabei nicht, ob die Linke mit dem EU-Establishment und deren Vorgehensweise auf Konfrontationskurs gehen muss. Die Frage ist vielmehr, in welchem Kontext dies geschehen muss und im Rahmen welches übergreifenden politischen Narrativs. Drei Möglichkeiten stehen zur Auswahl.
Option 1: Reform der EU, „mehr Demokratie“, „mehr Europa“
Diese meist von Sozialdemokraten favorisierte (und stark im Rückzug begriffene) Option zielt auf eine Reform der EU und glaubt, dass es hierfür unter anderem „mehr Demokratie“, „mehr Europa“ und eine Reform der EU-Institutionen bedarf. Diese Option gründet auf einem Irrglauben: Die EU leidet nicht an einem Mangel an Demokratie, der sich durch „ein bisschen mehr Demokratie“ und ein paar Reformen hier und dort reparieren ließe. Wie ich jüngst in einem Buch5 argumentiert habe, wurde die EU absichtlich als demokratiefreie Zone konstruiert, darauf ausgerichtet, den Demos aus den Entscheidungsprozessen auszuschließen und diese einem Kartell der europäischen Großunternehmen und dem Finanzsektor zu überlassen. Zu behaupten, die EU leide an einem Mangel an Demokratie, ist, als würde sich eine Astronautin auf dem Mond über den Mangel an Sauerstoff beschweren…
Zur Reform der EU-Institutionen ist das Standardprozedere von Verhandlungen zwischen Regierungen und schrittweisen Änderungen an den Verträgen nicht geeignet. Die Rufe nach „mehr Europa“ sind fehlgeleitet, denn unter der heutigen EU und ihren Institutionen können „mehr Europa“ und schrittweise Reformen nur zu einer Formalisierung und Legalisierung eines Europas der Sparmaßnahmen, einer „Sparunion“, führen, einen Kurs, den ich den Schäuble-Plan nenne. Dies wiederum wird die Krise für die Schwächsten in Europa verschärfen, die Attraktivität der extremen Rechten erhöhen und ohne Zweifel das Auseinanderfallen der EU beschleunigen. Trifft diese Annahme zu, wovon ich überzeugt bin, dann bleibt uns Demokraten nur die Möglichkeit, die direkte Konfrontation mit dem EU-Establishment zu suchen. Dies bringt uns zur zweiten und dritten Option.
Option 2: Lexit – die EU verlassen
Die zweite Option ist natürlich, die EU zu verlassen. Ein eloquenter Vertreter dieses Standpunkts ist Tariq Ali.6 In einem nach dem Brexit verfassten Beitrag beschreibt Stathis Kouvelakis diese Position folgendermaßen: „Wir müssen das Spiel mit den Referenden spielen und eine Hegemonie der Kräfte der extremen und nationalistischen Rechte verhindern, die den Aufstand in eine falsche Richtung lenken könnten“. Kurzum: Wollen wir den Menschenhass der extremen Rechten besiegen, müssen wir in deren Ruf nach Referenden einstimmen, die unseren Nationalstaaten den Weg aus der EU ebnen werden.
Diese Lexit-Option wirft allerdings Fragen auf, insbesondere in Bezug darauf, wie realistisch und integer sie ist. Lässt sich die Agenda der Lexit-Befürworter tatsächlich umsetzen? Oder anders gesagt: Ist es ein realistisches Szenario, dass (in den Worten von Kouvelakis) die Linke, indem sie zu Referenden zum Verlassen der EU aufruft, „eine Hegemonie der Kräfte der extremen und nationalistischen Rechte verhindern [kann], die den Aufstand in eine falsche Richtung lenken könnten“? Und deckt sich eine solche Kampagne überhaupt mit den grundlegenden Prinzipien der Linken? DiEM25 glaubt, dass die Antwort auf beide Fragen Nein lautet und stellt sich aus diesem Grund gegen die „Lexit“-Option. Beide Fragen möchte ich nun zunächst beantworten, bevor ich kurz den Alternativvorschlag von DiEM25 diskutiere (die dritte Option weiter unten).
Früher war die Linke gut in der Unterscheidung zwischen der Analyse von Zuständen und der Analyse von Prozessen. Weil sich Marx‘ Analyse, in Anlehnung an Hegel, mehr auf Prozesse als auf deren Ergebnisse konzentrierte, vermittelte er der Linken nicht nur ein Gespür für die Zustände in der Welt, sondern auch für die Richtung des Wandels. Im Falle der EU ist dies von entscheidender Bedeutung. So kann beispielsweise unsere Haltung, die wir vor der Einrichtung des Binnenmarkts oder der Eurozone eingenommen haben, nach der Etablierung dieser Institutionen nicht bestehen bleiben. Es ist daher überhaupt kein Widerspruch,
- sich gegen Griechenlands Aufnahme in den Binnenmarkt und/oder die Eurozone zu positionieren und
- sich gegen ein Referendum über den Austritt Griechenlands aus dem Binnenmarkt und/oder dem Euro zu stellen.
Noch entscheidender ist, dass es dabei einen enormen Unterschied macht, ob unser Ausgangspunkt ein Europa ohne Grenzen ist (in dem Arbeitnehmerfreizügigkeit besteht) oder ob wir uns in einem Europa wie dem der 1950er Jahren befinden, in dem Nationalstaaten die Grenzen kontrollieren und nach Gutdünken neue Kategorien italienischer oder griechischer Proletarier schaffen und als Gastarbeiter bezeichnen.
Dieser letzte Punkt verdeutlicht die Gefahren der Lexit-Position. In der EU herrscht Freizügigkeit, das heißt, die Lexit-Befürworter akzeptieren (oder unterstützen gar aktiv) das Ende der Freizügigkeit und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen inklusive Stacheldraht und bewaffneten Grenzbeamten. Angenommen wir könnten die Geschichte zurückdrehen und die Linke würde für ihre Unterstützung des gemeinsamen Binnenmarkts einen allgemeinen Mindestlohn verlangen. Glauben die Befürworter der Lexit-Option dann tatsächlich, dass die Linke heute den Kampf um Hegemonie gegen die extreme Rechte gewinnen kann, indem sie deren Ruf nach neuen Zäunen und einem Ende der Freizügigkeit unterstützt? Ein ganz ähnlicher Punkt ist die Frage, ob nach Meinung der Lexit-Befürworter die Linke, sowohl diskursiv als auch auf der Ebene konkreter Maßnahmen, den Kampf gegen den fossilen Energiesektor gewinnen kann, indem sie die Rückübertragung der Umweltpolitik auf die nationalstaatliche Ebene unterstützt? An beiden Fronten steuert die Linke unter dem Lexit-Banner nach meiner Einschätzung auf katastrophale Niederlagen zu.
Option 3: Der Vorschlag von DiEM25 für einen Aufstand in der EU
Damit kommen wir zur dritten Option: dem Vorschlag von DiEM25. Die Bewegung lehnt sowohl die Rufe der EU-Reformer nach „mehr Demokratie“ und „mehr Europa“ ab, als auch die von Lexit-Befürwortern geforderte Unterstützung von Referenden zur Abschaffung der EU-Ebene insgesamt und der vollständigen Rückübertragung von Kompetenzen an die Nationalstaaten. Als Gegenvorschlag setzt DiEM25 auf eine paneuropäische Bewegung des zivilen und staatlichen Ungehorsams, die zu einer breiten demokratischen Opposition gegen das Agieren der europäischen Eliten auf lokaler, nationaler und auf EU-Ebene heranwächst.
Bei DiEM25 glauben wir nicht, dass die EU über die üblichen Kanäle der EU-Politik und ganz bestimmt nicht, durch eine Lockerung der „Regeln“ zu Haushaltsdefiziten um ein halbes oder ganzes Prozent des BIP (wie es die Regierungen von Frankreich, Italien, Spanien und Portugal tun) reformiert werden wird. Vicente Navarro hat vor Kurzem geschrieben, dass „Parlamente immer noch Macht haben, unter anderem können sie Sparmaßnahmen in Frage stellen“. Die ersten fünf Monate der von Syriza geführten Regierung bestätigten dies. Allerdings liegt Navarro mit seinem Verweis auf die neue portugiesische Regierung als Beispiel leider falsch, wenn er behauptet, sie „habe die Umsetzung der Sparpolitik gestoppt, die ihnen die Europäische Kommission aufgezwungen hat“. Es wäre zu schön, wenn das wahr wäre. Tatsächlich mussten die Parteien der portugiesischen Linken, bevor sie vom Troika-freundlichen und rechtslastigen Präsidenten ein Mandat zur Regierungsbildung erhielten, einwilligen, den von der Vorgängerregierung mit der Eurogruppe vereinbarten „Verpflichtungen“ nachzukommen. Mit anderen Worten haben sie gleich am ersten Tag ihren Kotau vor dem Programm der Troika gemacht und sich damit begnügt, die Einführung neuer Sparmaßnahmen um plus-minus ein Jahr zu verzögern.7
Kurz gesagt haben nationale Parlamente und Regierungen Macht. Sie können so handeln wie die Syriza-Regierung während des Athener Frühlings, bevor sie nach dem OXI in der Nacht des Referendums kapitulierte. Mit einer Europäischen Zentralbank, die bereit war, als Vergeltung einen Bank-run zu starten und sogar das griechische Bankensystem zu schließen, kann eine progressive nationale Regierung diese Macht allerdings nur nutzen, wenn sie zu einem Bruch mit der EU-Troika bereit ist. In diesem Punkt stimmen wir bei DiEM25 mit dem Lexit-Lager überein: ein Zusammenstoß mit dem EU-Establishment ist unausweichlich. Jedoch teilen wir die Einschätzung der Lexit-Befürworter nicht, dass dieser Zusammenstoß nur in Form einer Kampagne zum Verlassen der EU erfolgen kann. Diese Annahme lehnen wir aus tiefstem Herzen ab und schlagen stattdessen vor, die Konfrontation mit dem EU-Establishment auf Grundlage einer Kampagne zu suchen, die sich bewusst den nicht umsetzbaren EU „Regeln“ auf der kommunalen, regionalen und nationalen Ebene widersetzt, dabei aber keine Schritte zum Austritt aus der EU unternimmt.
Ohne Zweifel werden uns (den rebellischen Regierungen und Finanzministern, die zur Übernahme der Agenda von DiEM25 gewillt sind) die EU-Institutionen mit Ausschluss, Bank-runs, vorübergehenden Bankenschließungen und anderen Maßnahmen ebenso drohen, wie sie der griechischen Regierung (und sogar mir persönlich) 2015 mit einem Grexit gedroht haben. An diesem Punkt ist es entscheidend, sich von der Angst vor einem Rauswurf aus der EU nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Man muss der EU fest in die Augen sehen, wenn man sagt:
„Tut, was ihr nicht lassen könnt! Das einzige, dass wir wirklich fürchten, ist euer alternativloses Angebot: die Fortsetzung der Spirale aus Schulden und Deflation, mit der die Massen in Europa in die Hoffnungslosigkeit und damit in die Arme der Fanatiker getrieben werden.“
Wenn wir nicht nachgeben, werden entweder sie nachgeben (in diesem Fall ändert sich die EU), oder die EU wird von ihrer eigenen herrschenden Klasse auseinandergerissen. Wenn das Establishment (die EU Kommission, die EZB, Berlin und Paris) die EU zur Bestrafung der progressiven Regierungen zerreißt, die sich geweigert haben, ihren albernen Programmen Folge zu leisten, wird dies progressive politische Ansätze in ganz Europa auf eine Weise befeuern, wie es Lexit niemals könnte.
Wir sollten die tiefgreifenden Unterschiede zwischen folgenden beiden Szenarien bedenken:
- Das EU-Establishment droht progressiven pro-europäischen Regierungen mit Rausschmiss, wenn sie sich weigern, sich der autoritären Inkompetenz der EU zu unterwerfen und
- Progressive nationalistische Parteien oder Regierungen machen gemeinsam mit der extremen Rechten Stimmung für den EU-Austritt.
Das ist der Unterschied zwischen:
(A) Einer Konfrontation mit dem EU-Establishment, die dem Geist des Internationalismus treu bleibt, paneuropäische Aktionen verlangt und uns klar von der extremen Rechten absetzt und
(B) dem Schulterschluss mit nationalistischen Positionen, die unweigerlich, die extreme Rechte stärken werden, während sie es der EU ermöglichen, die Linke als Populisten zu brandmarken, die sich nur unwesentlich von Nigel Farage, Marine Le Pen und anderen unterscheiden.
Selbstverständlich muss ein Teil der DiEM25-Agenda die Entwicklung von Strategien umfassen, die unseren Städten, Regionen und Nationalstaaten die Möglichkeit gibt, sich gegen das EU-Establishment zur Wehr zu setzen, das mit „Austritt“ oder „Rausschmiss“ als Vergeltung droht. Ebenfalls sollte die Agenda Pläne beinhalten, was bei einem Zusammenbruch oder einem Auseinanderbrechen der EU zu tun ist, wenn das Establishment dumm genug ist, diese Drohungen gegenüber unfügsamen nationalen Regierungen in die Tat umzusetzen. Dies ist aber etwas gänzlich anderes, als das Auseinanderbrechen der EU zum Ziel der Linken zu machen.
Anders gesagt, weigert sich DiEM25, das Verlassen der EU als Drohkulisse zu nutzen oder gar zu einem Selbstzweck zu machen. Die Möglichkeit, dass Regierungen im Angesicht eines drohenden Ausschlusses oder dem erzwungenen Verlassen der EU den Gehorsam verweigern, lassen wir uns aber nicht nehmen.
Internationalismus, die EU und der Nationalstaat
Der traditionelle linke Internationalismus ist neben weiteren grundlegend demokratischen Traditionen verschiedener politischer Projekte (progressiver Liberalismus, Feminismus, Umweltbewegung, Piratenparteien etc.) ein Kernelement von DiEM25. Genau dieser Internationalismus spiegelt sich auch in der Positionierung von DiEM25 zur EU wieder. Meine linken Kollegen erlauben mir hoffentlich daran zu erinnern, dass Marx und Engels, als sie den Slogan „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ prägten, weder die Bedeutung nationaler Kulturen noch die des Nationalstaats negieren wollten. Sie lehnten lediglich die Idee eines „Nationalinteresses“ ebenso ab wie die Vorstellung, dass soziale Kämpfe der Ebene des Nationalstaats den Vorrang geben müssen.
Um eine authentische Demokratie zu etablieren, setzt DiEM25 auf eine Rebellion von Regierungen auf der lokalen, der nationalen und der EU-Ebene. Dabei priorisieren wir nicht die EU-Ebene vor der nationalen Ebene, genauso wenig wie wir der nationalen vor der regionalen oder lokalen Ebene Vorrang geben. Leider bestehen etliche europäische Linke auf einer umgekehrten Prioritätensetzung: Sie stellen die nationale über die EU-Ebene. In einer Antwort auf einen Artikel von Lorenzo Marsili und mir in La Reppublica entgegnete uns und DiEM25 beispielsweise Stefano Fassina (in dem er Ralf Dahrendorf zitierte), dass Demokratie auf der Ebene der EU „nicht funktionieren könne…, da es kein ‚europäisches Volk‘, keinen europäischen Demos für eine europäische Demokratie gäbe…“ „Unter den Idealisten und den Euro-Fanatikern“, schreibt Fassina weiter, „glauben einige immer noch, dass sich die EU zu einer Art Nationalstaat wandeln kann, nur eben größer, sie träumen von den Vereinigten Staaten von Europa.“
Den Aufruf von DiEM25 für eine paneuropäische Bewegung auf diese Weise von linker Warte aus abzulehnen, ist interessant und stimmt nachdenklich. Im Prinzip wird hier nämlich argumentiert, dass Demokratie jenseits der nationalstaatlichen Ebene nicht funktionieren kann, weil der Demos von nationaler und kultureller Homogenität geprägt sein muss. Marx Wutausbruch angesichts eines solchen Arguments kann ich mir nur zu gut vorstellen! Genauso kann ich mir die bildlichen Fragezeichen in den Gesichtern linker Internationalisten vorstellen, die von einer transnationalen Republik vom Atlantik bis so weit in den Osten wie möglich träumten und für diese kämpften.
Nur um daran zu erinnern: Die Linke hat sich traditionell dem bürgerlichen Glauben von einer eins-zu-eins-Beziehung zwischen einer Nation und ihrem souveränen Parlament widersetzt. Vielmehr argumentierte die Linke immer, das Identität in politischen Kämpfen (Klassenkampf, der Kampf gegen das Patriarchat, gegen Gender- und Geschlechterstereotype und der Emanzipierung vom Empire etc.) entsteht. Damit fügt sich der Aufruf der Bewegung DiEM25 für eine paneuropäische Kampagne des Ungehorsams gegenüber den transnationalen Eliten, der einen europäischen Demos zur Etablierung einer europäischen Demokratie schafft, in traditionelle linke Ansätze ein. Genau dieser Ansatz wird jetzt aber von Fassina und anderen unter Beschuss genommen. Politisch möchten sie zurück in die Zeiten einer Nation, eines Parlaments, einer Souveränität und dabei den Internationalismus auf die „Kooperation“ zwischen europäischen Nationalstaaten beschränken.
Theoretisch untermauert Fassina seine Priorisierung der nationalstaatlichen Ebene mit Antonio Gramsci und seinem Eintreten für die „Kategorie des Nationalen und des Volks, um den Anspruch der kommunistischen Partei Italiens mit ihrer auf der italienischen Fahne ruhenden roten Hammer und Sichel Fahne, auf Hegemonie durch ihre Verwurzelung im Volk zu sichern“. Gramscis Punkt war, dass Fortschritte auf der internationalen Ebene eine progressive Bewegung auf der Ebene der Städte und Nationalstaaten voraussetzt. Keineswegs jedoch wollte Gramsci der nationalen gegenüber der internationalen Ebene Priorität einräumen und er hat auch nicht argumentiert, dass transnationale demokratische Institutionen nicht praktikabel oder nicht wünschenswert wären.
Genau in diesem Geiste Gramscis beharrt DiEM25 darauf, dass unsere europäische Rebellion überall ausbrechen muss, in den Städten, den Regionen, den Hauptstädten und in Brüssel, ohne dass dabei einer Ebene Vorrang gegenüber einer anderen eingeräumt wird. Nur durch ein solches paneuropäisches Netzwerk rebellischer Städte, Gemeinden und Regierungen kann eine progressive Bewegung in Italien, in Griechenland, in England und ja sogar überall hegemonisch werden.
Frech könnte man schließlich fragen: „Warum bei der EU-Ebene halt machen? Wenn ihr Internationalisten seid, warum dann keine Kampagne für globale Demokratie?“ Unsere Antwort darauf lautet, dass wir für Demokratie überall und auf Grundlage eines internationalistischen Standpunkts eintreten. So ist DiEM25 gerade dabei, starke Verbindungen zu Bernie Sanders „politischer Revolution“ in den USA zu etablieren und hat Mitglieder in Lateinamerika, Australien und sogar Asien. Ob zum Guten oder zum Schlechten sei dahingestellt, aber die Geschichte hat uns eine EU ohne Grenzen vermacht. Es gibt eine gemeinschaftliche Politik in Feldern wie Umwelt und die (per definitionem internationalistische) Linke ist verpflichtet, diese Abwesenheit von Grenzen genauso zu verteidigen wie die gemeinschaftliche Klimapolitik und auch Dinge wie das Erasmusprogramm, das es jungen Europäern ermöglicht, in einem grenzüberschreitenden Bildungssystem zusammenzukommen. Sich gegen diese Errungenschaften einer ansonsten rückschrittlichen EU zu stellen, ist mit einer im eigentlichen Sinne linken Position nicht in Einklang zu bringen.
Die progressive Agenda von DiEM25 für Europa
Progressiv denkende Menschen haben die Pflicht, für die Re-Politisierung der politischen Entscheidungsfindung und die Demokratisierung der zurückeroberten politischen Sphäre zu kämpfen. Donald Trump in den USA, rechte Brexit-Befürworter in Großbritannien, Le Pen in Frankreich und andere verdanken ihren Aufstieg einer Wirtschaftskrise, die von einer Krise der Finanzialisierung und der Tatsache ausgelöst wurde, dass liberale Demokratien in einer Ära, in der die Finanzialisierung kriselt, nicht länger als liberale Demokratien funktionieren können. Die Frage, die sich der europäischen Linken, den progressiven Liberalen, den Grünen usw. jetzt stellt, ist, ob dieser Kampf, dieses Projekt, die Form einer Kampagne zum Verlassen der EU annehmen sollte (die Lexit-Position) oder, wie DiEM25 vorschlägt, des zivilen, bürgerlichen und staatlichen Ungehorsams in Konfrontation zu aber innerhalb der EU.
DiEM25 lehnt die Kampagne der Euro-Treuen zur Reform der EU im Rahmen des EU-Establishments ab, da ein solcher Wandel nur oberflächlich oder in die falsche Richtung führend sein kann. Genauso stellen wir uns der Logik der Lexit-Befürworter entgegen, das Auseinanderfallen der EU zu unserem erklärten Ziel zu machen. DiEM25 wurde zur Schaffung einer realen Alternative gegründet: eine grenzüberschreitende Welle Einigkeit schaffender Politiken quer durch Europa (in EU und nicht-EU Staaten gleichermaßen), die auf einer Allianz von Demokraten aus verschiedenen politischen Traditionen (darunter auch aber nicht nur die Linke) gründet, und zwar auf allen politisch relevanten Ebenen (Städte, Metropolen, Regionen und Staaten).
Um es zusammenzufassen: Unseren Kritikern, die die Bewegung DiEM25 und ihren Aufruf zu einer paneuropäischen Bewegung als utopisch abtun, entgegnen wir, dass eine transnationale, paneuropäische Demokratie ein legitimes und mit der langen Geschichte des linken Internationalismus in Einklang stehendes langfristiges Ziel darstellt. Im Sinne dieses Ziels müssen wir pragmatisch vorgehen und einen detaillierten Plan mit den nächsten Schritten entwickeln:
- Wir sollten uns dem Gerede von „mehr Europa“ widersetzen, denn „mehr Europa“ ist heute ein Synonym für den eisernen Käfig aus Sparmaßnahmen, auf den das EU-Establishment setzt.
- Wir müssen den Europäern einen Entwurf (einen umfassenden Satz an Politiken und Maßnahmen) präsentieren, wie wir gedenken, die Institutionen der EU zur Bekämpfung der Krise, zur Umkehr von Ungleichheit und Wiederbelebung von Hoffnung neu auszurichten.
- Wir müssen sicherstellen, dass dieser Entwurf Vorkehrungen enthält, damit der Internationalismus selbst dann überlebt, wenn der inkompetente Autoritarismus des EU-Establishments zum Auseinanderbrechen der EU führt.
„Europa wird demokratisiert – oder es wird zerfallen!“
Dies war und bleibt die Leitlinie von DiEM25. Wir können nicht vorhersagen, zu welchem der beiden Szenarien (Demokratisierung oder Auseinanderbrechen) es kommen wird. Daher kämpfen wir für ersteres und bereiten uns auf letzteres vor. Unser Beitrag ist die Ausarbeitung einer progressiven Agenda für Europa, die mit der Unterstützung progressiv denkender Experten auf der Graswurzelebene entsteht. Ihre Aufgabe wird es sein, die blinde Euro-TINA8, das reaktionäre Dogma, dass es innerhalb eines vereinten Europas keine genuin progressive Alternative zur herrschenden Politik gibt, in die Knie zu zwingen.
Das Gegengift von DiEM25 zu Euro-TINA ist die progressive Agenda für Europa, die wir in Beratung mit lokalen, regionalen und nationalen Akteuren während der nächsten achtzehn Monate zur Diskussion stellen werden. Der Bau unserer progressiven Agenda findet europaweit, bis zu den Inseln am Rande Europas, statt und ist unsere Art, den geschlagenen, entmutigten und desillusionierten Europäern zu zeigen, dass es überraschenderweise doch eine Alternative gibt.
Die progressive Agenda für Europa von DiEM25 wird pragmatisch, radikal und tiefgreifend sein. Sie wird Vorschläge für Maßnahmen enthalten, die sich zur Stabilisierung der sozialen Wirtschaft Europas sofort umsetzen lassen, während sie gleichzeitig:
- den Stadträten, Gemeinden und nationalen Parlamenten mehr Souveränität bieten;
- Eingriffe durch die Institutionen und Entwürfe vorschlagen, die die Folgen für die Menschen im Falle eines Zusammenbruchs des Euro und einer Fragmentierung der EU abfedern;
- einen Prozess hin zu einer verfassungsgebenden Versammlung einleiten, der es den Europäern erlaubt, eine europäische Identität zu entwickeln, die ihre gestärkten nationalen Kulturen, Parlamente und lokalen politischen Strukturen stützt.
Die progressive Agenda für Europa von DiEM25 zielt auf eine einigende Kampagne, die es einer progressiven europäischen Internationale ermöglicht, sich der kontinuierlich stärker werdenden Internationale der Nationalisten entgegenzustellen.
Schlussbemerkungen
Die EU befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Auflösung. Für die Zukunft sind zwei Szenarien vorstellbar. Entweder:
- die EU ist (noch) zu retten und lässt sich noch demokratisieren, stabilisieren, rationalisieren und menschlicher gestalten, oder
- es besteht bereits keine Hoffnung mehr, die EU zu demokratisieren. Ihre Auflösung ist daher sicher, wie auch die deutliche und akute Gefahr, dass Europa in eine postmoderne Version der Deflation der 1930er Jahre versinkt.9
DiEM25 ist davon überzeugt, dass progressiv Denkende in beiden Fällen einen großen Fehler begehen, wenn sie die Kampagne zur Demokratisierung der EU aufgeben. Sollte eine Demokratisierung der EU noch möglich sein (eine Aussicht, die von Minute zu Minute unwahrscheinlicher wird), wäre es schade, nicht wenigstens einen entsprechenden Versuch zu wagen. Jedoch selbst wenn wir davon überzeugt sind, dass die EU nicht mehr zu demokratisieren, also nicht mehr zu retten ist, dürfen wir den Kampf um Demokratisierung nicht aufgeben (und den EU-Austritt und deren Auflösung zu einem Ziel an sich machen). Denn dies kann nur in die Hände einer einzigen politischen Kraft spielen, die davon profitieren kann, nämlich die der kompromisslosen, extremen Rechten.10
Was sollten Progressive also tun? DiEM25 schlägt vor:
- Europaweit energisch für eine demokratische Union gemäß internationalistischer und grenzüberschreitender Prinzipien agitieren, selbst wenn wir nicht glauben, dass die EU in ihrer derzeitigen Form überleben kann oder sollte.
- Die Inkompetenz des autoritären EU-Establishments offenlegen.
- Zivilen, bürgerlichen und staatlichen Ungehorsam europaweit koordinieren.
- Durch die Strukturen von DiEM25 aufzeigen, wie eine paneuropäische Demokratie auf allen Ebenen unabhängig vom Rechtssystem funktionieren kann.
- Eine umfassende progressive Agenda für Europa entwickeln, die vernünftige, bescheidene und überzeugende Vorschläge zur „Reparatur“ der EU (und sogar des Euros) und für einen progressiven Umgang mit dem Zerfall der EU und des Euros umfasst, wenn und falls das Establishment diesen Weg gehen sollte.
Wir danken Neues Deutschland für die deutsche Übersetzung und ursprüngliche Veröffentlichung dieses Artikels.
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