Brexit

Die EU kann nicht überleben, wenn sie einfach so weitermacht

Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch auf CNN erschienen und wurde von DiEM25 Mitglied Ralph Kiessling übersetzt.


 
Nachdem die britische Premierministerin Theresa May den Artikel 50 ausgelöst hat, so dass der Brexit nun unausweichlich ist, befindet sich Europa in einer zweifach paradoxen Situation, die eine klare und unmittelbare Bedrohung für die Europäische Union und Großbritannien darstellt.
David Cameron – Mays Vorgänger, der das Brexit-Referendum verloren hat – hat guten Grund, über die Auswirkungen seiner Niederlage beunruhigt zu sein.
Großbritannien verlässt jetzt die EU wegen seiner Forderung nach einer “variablen Gestaltung”, die es dem Land erlaubt hätte, aus einigen grundlegenden Vereinbarungen der EU auszusteigen. Diese Forderung wurde ohne Not von Berlin und, nicht ganz so überheblich, von Paris zurückgewiesen.
Doch jetzt, infolge des Brexits, übernehmen Berlin und Paris die Idee der variablen Geometrie, um die EU voranzubringen.
Man kann dieses erste Paradoxon als ein Beispiel für die klassische europäische Praxis verstehen, aus einem Fehler eine Tugend zu machen
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hatte sich seit Jahren der Idee eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten widersetzt, die einigen Ländern aufgrund ihrer innenpolitischen Situation einen geringeren Integrationsgrad zugestanden hätte.
Doch jetzt, nachdem das totale wirtschaftliche Missmanagement der Eurokrise die Legitimität der EU geschwächt, den Euroskeptikern viel Aufwind beschert und die EU in ein Stadium des fortgeschrittenes Zerfalls gebracht hat, scheinen Frau Merkel und die anderen Regierungschefs der EU zu glauben, dass ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten unverzichtbar ist, um den Block zusammenzuhalten.
Am Wochenende, als die EU-Führung sich versammelte, um den 60. Jahrestag der Römischen Verträge zu feiern, unterzeichneten die Regierungschefs der 27 verbleibenden Mitgliedsstaaten die Erklärung von Rom. Darin heißt es, man werde „gemeinsam – wenn nötig mit unterschiedlicher Gangart und Intensität – handeln, während wir uns in dieselbe Richtung bewegen, so wie wir es schon in der Vergangenheit getan haben.“
Die EU konnte auf dem Weg zu gemeinsamen Werten, einem gemeinsamen Markt und einer gemeinsamen Währung nicht zusammengehalten werden, doch dies wird nun begrüßt und zu einem Neustart umgedeutet. Dies führt zu einem Europa, in dem eine Koalition der Willigen die ursprünglichen Ziele weiterverfolgt, während der Rest äußere Kreise bildet, die durch unbestimmte Verpflichtungen an den Kern gebunden sind.
Im Prinzip würde eine so vielgestaltige EU es den selbst erklärten illiberalen Demokratien im Osten erlauben, im gemeinsamen Markt zu bleiben und sich gleichzeitig zu weigern, auch nur einen einzigen Flüchtling aufzunehmen oder die Standards der Pressefreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz zu beachten, die für andere europäische Länder unverzichtbar sind. Ländern wie Österreich wird es ermöglicht, an ihren Grenzen Elektrozäune zu errichten. Es könnte sogar der Weg zu einer Rückkehr von Großbritannien als Teil der äußeren Kreise Europas geebnet werden.
Die Chancen für diese Vision, ganz gleich ob man ihr zustimmt oder nicht, hängen hauptsächlich ab von einer Voraussetzung: eine konsolidierte, stabile Eurozone.
Mit dieser Feststellung offenbart sich das zweite Paradoxon in der Wirklichkeit nach dem Brexit: In ihrem jetzigem Zustand kann die Eurozone die Stabilität, die die EU und ganz Europa zum Überleben brauchen, nicht herstellen.
Die Weigerung, auf den griechischen Staatsbankrott rational zu reagieren, ist ein aufschlussreicher Prüfstein für die Fähigkeit des europäischen Establishments, die Eurozone zu stabilisieren.
Derzeit deutet wenig auf eine Stabilisierung der Eurozone hin. „Business as usual“ – die bevorzugte Option des Establishments – könnte bald zu einer großen Krise in Italien führen, die die Eurozone nicht überleben kann.
Die einzige Alternative, die diskutiert wird, ist die Einführung bundesstaatlicher Elemente in der Eurozone, mit einem kleinen gemeinsamen Budget, dem Berlin zustimmen würde als Gegenleistung für die direkte Kontrolle der Haushalte von Frankreich, Italien und Spanien. Selbst wenn das umgesetzt wird, was im gegenwärtigen politischen Klima zweifelhaft ist, wird es nicht ausreichen, um die Eurozone zu stabilisieren.
So sieht es also heute in Europa in Wirklichkeit aus: Eine echte Föderation der 27 Mitgliedsstaaten ist angesichts der zentrifugalen Kräfte, die Europa auseinanderreißen, nicht möglich. Voraussetzung für einen Staatenbund mit variabler Gestaltung – wie ihn David Cameron vorgeschlagen hatte und in den Großbritannien nach 2019 vielleicht eintreten möchte – ist andererseits eine konsolidierte Eurozone. Aber dies scheint im derzeitigen Klima ebenfalls unmöglich.
Es den EU-Mitgliedern zu erlauben, sich in verschiedener Geschwindigkeit in verschiedene Richtungen zu bewegen, ist genau der falsche Ansatz, wenn es darum geht, sich mit den unterschiedlichen Anliegen der Europäer in den einzelnen Ländern zu befassen. Sie auf einem Weg zu vereinen, der den Kontinent voranbringt, dürfte auf diese Art nicht gelingen.
Dabei sind die Europäer bereits durch zwei existenzielle Bedrohungen vereint: Unfreiwillige Unterbeschäftigung – die bittere Frucht niedriger Investitionen infolge der Sparpolitik – und unfreiwillige Migration, die aus der Konzentration der Investitionen in bestimmten Regionen resultiert.
Damit die Europäische Union wieder funktioniert, muss jedes einzelne europäische Land stabilisiert werden und Hilfe erhalten, um seinen Wohlstand zu mehren.
Als eine gesetzesfreie Zone, in der sich jeder selbst der Nächste ist, kann Europa nicht funktionieren. Aber auch nicht als eine Union der Sparpolitik, die auf entpolitisierten wirtschaftlichen Entscheidungen beruht, mit einem Föderalismus als Feigenblatt, in dem einige Länder zu dauerhafter Depression verurteilt sind und Schuldner keine demokratischen Rechte haben.
Kurz gesagt, Europa braucht einen New Deal für den gesamten Kontinent, der alle Länder einbezieht, egal ob sie in der Eurozone sind, in der Europäischen Union oder in keiner von beiden – vielleicht etwas ähnliches wie der New Deal, den meine Organisation DiEM25 am Wochenende in Rom enthüllt hat, während die europäischen Eliten auf ihre variable Gestaltung anstießen.
 

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