Die Rückkehr des Neoliberalismus?

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Die Besetzung der Habersaathstraße 46 hätte eine neue und mutige Wohnungspolitik einleiten können. Stattdessen entschied man sich für einen Kniefall vor dem Immobilienkapital.

Ein Kommentar von Timm Kühn

Im Zuge der Pandemie haben ja viele den Neoliberalismus für tot erklärt. Spätestens seit der Finanzkrise sei offensichtlich geworden, dass eine Gesellschaft nicht funktioniert, wenn man sie in ihrer Gesamtheit nach den Funktionslogiken des Marktes gestaltet. Man beschwor die Rückkehr des Staates und damit das Potenzial einer demokratischen Revitalisierung – künftig sollte Politik wieder von kollektiven Absprachen bestimmt werden, in denen sich das Gute, Richtige und Moralische herauskristallisiert.

Und für einige Stunden schien es Donnerstag tatsächlich so, als sei die Moral in die Wohnungspolitik zurückgekehrt. Dies war so, als wohnungs- und obdachlose Menschen sowie Unterstützer*innen von mietenpolitischen und sozialen Initiativen mehrere Wohnungen in der Habersaathstraße 46 in Berlin-Mitte besetzten. Plötzlich ging es wieder um ganz konkrete Fragen der Ethik: Wenn 10.000 Berliner*innen auf der Straße schlafen müssen, warum wird dann toleriert, dass Wohnungen als Finanzspekulationsobjekte leerstehen? Wie sollen sich obdachlose Menschen in Notunterkünften vor der Pandemie schützen, wenn sie dort mit über 50 Menschen in einem Raum schlafen müssen? Was wiegt mehr: Das Menschenrecht auf Wohnen oder die Profite der Investoren?

Die Sachlage schien eindeutig zu sein: Es geht um ein Gebäude, welches erst 2006 vom damaligen Finanzsenator Thilo Sarrazin (vormals SPD) von der Stadt verkauft wurde – 106 Wohnungen zum Traumpreis von zwei Millionen Euro. 2017 wurde das Gebäude dann erneut verkauft, dieses Mal für wohl 20 Millionen an die Arcadia Estates. Diese hatte erst Renovierungs- und Modernisierungspläne (welche die Miete der Mieter*innen verdoppelten würde), doch dann entschied man sich für Abriss und Luxusneubau: 91 Wohnungen und 46 Tiefgaragenplätze, laut Tagesspiegel zum Verkauf gedacht zu Preisen von 8000 bis 10000 Euro pro Quadratmeter.

Ein Musterbeispiel neoliberaler Wohnungspolitik also. Der sich bildenden Nachbarschaftsinitiative Habersaathstrasse wurde mit Abfindungen begegnet (zwischen 2000 und 30000 Euro für den freiwilligen Auszug), es liegen aber auch Berichte über Schikanen und Einschüchterungsversuche vor. Und so leerte sich das Haus zunehmend, wohl auch, weil im September 2018 Unbekannte das Auto des Sprechers der Anwohner*inneninitiative Theo Diekmann abfackelten.

Politisch begann man in der Zwischenzeit, sich von der völlig fehlgeleiteten Politik der Privatisierung zu lösen. Das Bezirksamt Mitte verwehrte der Arcadia Estates die Abrissgenehmigung auf Grundlage des verschärften Berliner Zweckentfremdungsverbotsgesetz. Im Falle eines Abrisses müsste nun gleichwertiger Wohnraum zur Miete von maximal 7,92 Euro nettokalt entstehen – für die Arcadia das Ende aller Wirtschaftlichkeit. Und seit Juni diesen Jahres strebt der Bezirk sogar offiziell die Rekommunalisierung an.

Doch bis gestern geschah nichts, weshalb es mehr als verständlich ist, dass die Obdachlosen die Sache nun selbst in die Hand genommen haben. Man plane eine Suppenküche und andere soziale Initiativen, ruft ein Mann aus dem Gebäude heraus. Da die Stadt die Wohnungen brauche, um Menschen ohne Wohnraum die Quarantäneverpflichtung zu ermöglichen, sei auch eine Beschlagnahmung rechtlich möglich – die teure Rekommunalisierung könnte also umgangen werden.

Und tatsächlich erklärt Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) öffentlich, dass er diese Möglichkeit prüfen lasse. Er sagt, die Räumung würde 24 Stunden ausgesetzt. Dies wird per Megaphon auf der Kundgebung durchgegeben, Jubel bricht aus. Ein erster Schritt, ein großer Erfolg. So geht Stadt von unten, so kann der Druck der Straße tatsächlich etwas bewirken. Man warte nur noch auf die Bestätigung der Polizei, heißt es, man wolle sichergehen, dass sich auch alle an die Linie des Bezirksbürgermeisters halten.

Wie es zu der Räumung kurze Zeit später kam, ist nicht näher bekannt. Doch Valentina Hauser von der Gruppe ‚Leerstand Hab-ich-Saath‘ hatte schon zuvor befürchtet, Innensenator Andreas Geisel (SPD) könnte die obdachlosen Menschen räumen lassen, weil auch rot-rot-grün „vor dem Immobilienkapital kuscht“. Der Verdacht steht im Raum, dass man Folgebesetzungen vermeiden will, um die Attraktivität des Investionsstandort Berlin nicht zu gefährden.

Jedenfalls dauerte es nur wenige Minuten, bis der Neoliberalismus zurückschlägt, materialisiert im Personal der Staatsgewalt. Die die Besetzung begleitende Kundgebung wird von der Straße auf den Bürgersteig gedrängt. Ein Polizeischeinwerfer wird aufgebaut, technische Unterstützung kommt. Das Gebäude wird geräumt, das Kapital gewinnt. Wie auch ‚Leerstand Hab-ich-Saath‘ spekuliert, hat sich Polizeipräsidentin Barbara Slowik offenbar dafür entschieden, dem Räumungsgesuch des Eigentümers mehr Gewicht einzuräumen als der Prüfung auf Beschlagnahmung durch den Bezirk. Nach Räumung und Gewahrsamnahme der besetzenden Personen wartet man sogar noch ab, bis ein privater Sicherheitsdienst die Bewachung des leeren Gebäudes übernimmt.

Offensichtlich gelten die Profite der Investoren doch mehr als das Menschenrecht auf Wohnen. Die obdachlosen Menschen sitzen also wieder in der Kälte. Und die Politik hat eine weitere Chance verpasst, endlich Mut zu beweisen: Mut, gegen den Ausverkauf der Stadt vorzugehen und neue Wege zu bestreiten, welche den Prinzipien der Demokratie wieder Vorrecht vor den Prinzipien der Märkte einräumen könnten. Und so bleibt es die Aufgabe der außerparlamentarischen Linken, weiterhin den Druck zu erzeugen den es benötigt, damit sich dieser Mut endlich irgendwo findet – weshalb sich die Räumung der Obdachlosen in der Habersaathstraße auch als Auftakt zum Diskussions- und Protestwochenende der ‚Interkiezionalen‘ lesen lässt, welche am folgenden Wochenende Veranstaltungen in ganz Berlin plante.

DiEM25 fordert von EU-Kommission und Europäischem Parlament: Befreit einkommensschwache Europäer*innen von Mietbelastungen! Unterzeichne jetzt die Petition.

Titelbild: Creative Commons (CC-BY-SA)

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Yanis Varoufakis sagt gegen die Firma aus, die für das Ausspähen von Julian Assange bezahlt wurde.

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Der Kampf um Gerechtigkeit für Julian Assange findet heute vor einem Gericht in Griechenland statt, wo Yanis Varoufakis gegen die Firma aussagen wird, die dafür bezahlt wurde, Assange auszuspionieren, während er über Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London ausharrte.

Am Dienstag, dem 27. Oktober, um 13 Uhr Ortszeit wird der Mitbegründer von DiEM25, Yanis Varoufakis, in einer Telefonkonferenz vor einem griechischen Gericht als Zeuge für die Anklage aussagen. Er wird einen spanischen Gerichtsfall gegen die Firma UC Global unterstützen, die Julian Assange während seines Aufenthalts in der ecuadorianischen Botschaft in London ausspioniert hat.

Die fragliche Firma hatte einen Vertrag mit US-Behörden und wird wegen möglicher Verletzungen der Rechte von Yanis Varoufakis und anderer Besucher*innen von Julian Assange untersucht.

Die Ermittlungen konzentrieren sich auf heimliche und illegale Video- und Tonaufzeichnung privater Gespräche zwischen Varoufakis und Assange. Des Weiteren betrifft sie die illegale Anfertigung von Kopien von Varoufakis’ Reisepass sowie dem Inhalt seines Mobiltelefons – all dies wurde über den Atlantik von UC Global an seinen “Kunden”, d.h. die US-Regierung, übermittelt.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass dieses Verfahren gegen diejenigen, die Julian Assange jahrelang verfolgt haben, von einer europäischen Justizbehörde geführt wird. Währenddessen stirbt Julian langsam in inhumaner Isolation im britischen Äquivalent zu Guantanamo: dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Und für welches Verbrechen? Er hat uns Bürger*innen über die von unseren Regierungen begangenen Verbrechen informiert.

Der Vorsitzende von MeRA25, Yanis Varoufakis, wird bei den spanischen Behörden freiwillig per Telefonkonferenz aussagen und damit entscheidend dazu beitragen, dass Assange schließlich frei gelassen wird. DiEM25, MeRA25 und die Progressive Internationale setzen sich dafür seit Jahren ein. Wir rufen Sie dazu auf, ihre Stimme zu erheben, sich uns anzuschließen und zu helfen, Julian Assange zu befreien.

Material zum Fall.

(2020.05.29) Notarial Protocol Num. 921

REF 015 Muller Varoufakis

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Politische Organisierung in Zeiten der Pandemie: Das DiEM25 Sommerfest 2020

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Am 19. September trafen sich etwa 40 DiEM25 Mitglieder zum jährlichen deutschsprachigen Treffen der Bewegung in Berlin.

Das Treffen führt die DiEM25 Grassroots-Tradition einer entspannten Versammlung fort, mit dem Ziel des Beisammenseins und voneinander Lernens durch das im Vorfeld gemeinsam gestaltete Programm. Das Format wurde, wie im Jahr 2020 alles andere auch, durch ein Corona-Hygienekonzept erweitert, das dazu beitrug, dass sich niemand bei der Veranstaltung ansteckte. Danke an alle Teilnehmer*innen dafür.

Die Gäste des Sommerfests 2020 kamen aus Berlin aber auch aus weiteren Städten überall in Deutschland. Länger aktive DiEMer*innen trafen auf neuere Mitglieder und einige, die über befreundete Organisationen oder persönliche Einladung gekommen waren. Es war schön, ehemalige DiEM Mitglieder zu sehen, die vorbeischauten, um die persönlichen Verbindungen zu pflegen und ihre Perspektive und aktuellen Projekte einzubringen.

Inhaltlich war über die gemeinsame Auseinandersetzung mit Gender Gedöns, der Diskussion von Bürger*innenversammlungen, auch mit Hinblick auf den Green New Deal für Europa, Big Tech im Kaptitalismus und Munizipalismus einiges geboten. Gemeinsam besprachen wir auch die Momentaufnahme von DiEM25, die vergangenen Monate und das Potenzial von DiEM25.

Das Wochenende begann schon Freitags mit dem Livestream des Treffens der Progressiven Internationale und einer Paneldiskussion in einer Berliner Bar, wo sich einige der Teilnehmer*innen des Sommerfests zum ersten Mal begegneten.

Der nächste Tag begann mit einem gemeinsamen Frühstück als Grundlage für einen sehr langen Tag, da der Programmplan vielleicht etwas optimistisch war und alle Lust auf den Austausch hatten. So war die Veranstaltung auch nicht um 19:00 Uhr zum Abendessen vorbei und die Abschlussrunde ging mit Essen noch bis 21:30 Uhr.

Natürlich war auch das nur der Abschluss der offiziellen Veranstaltung, da die meisten aus der erschöpften aber beseelten Sommerfest-Gruppe noch weiterzogen. Wie es so oft passiert, führte die Kürze der Nacht davor, sowie die Länge des Tages, nur dazu, mehr Zeit miteinander zu verbringen und über die großen Fragen unserer Zeit zu reden.

Manche nahmen am nächsten Tag noch an der Demonstration gegen die Zustände in Moria und die Untätigkeit der deutschen Regierung teil. Andere waren schon wieder auf dem Weg nach Hause, um die Planung für Demonstrationen weiterzuverfolgen und ihre politische Arbeit weiterzuführen – ziemlich müde aber mit einem frischen Schub Motivation, dass sich etwas verändern kann und wir daran teilhaben.

Die Organisator*innen danken allen, dass sie sich an das Hygienekonzept gehalten haben, sie danken allen, die die Veranstaltung möglich gemacht haben und sind all jenen dankbar, die beim Fundraiser gespendet haben.

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Polizeigewalt vor Gerichtsgebäude überschattet historisches Urteil gegen Goldene Morgenröte

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Vor einem Gerichtsgebäude in Athen kam es am Mittwoch zu gewaltsamen Angriffen der Bereitschafspolizei auf zahlreiche Menschen — darunter auch Mitglieder und Abgeordnete von MeRA25 –, die das zuvor ausgesprochene Urteil gegen die Partei „Goldene Morgenröte“ gefeiert haben. Mitunter wurden sie so schwer bedrängt, dass sie sich übergeben mussten oder keine Luft mehr bekamen.

In Erwartung des Urteils gegen die kriminelle Neonazi-Organisation „Goldene Morgenröte“ hatten sich etwa 20.000 Menschen vor dem obersten Gericht in Athen versammelt. Auch Mitglieder von DiEM25 und MeRa25, einschließlich Abgeordneter aus dem griechischen Parlament, waren vor Ort.

Am 7. Oktober wurde ein Urteil von historischer Bedeutung gesprochen.

Das oberste Gericht in Athen hat führende Mitglieder und ehemalige Abgeordnete der Partei „Goldene Morgenröte“ für schuldig befunden, an der Leitung einer kriminellen Organisation beteiligt zu sein. Ihre Aktivitäten und ihre menschenverachtende Neonazi-Vereinigung sind demnach illegal! Dieses Urteil ist ein großer Triumph für die Gerechtigkeit und die Demokratie.

Foto: Unzählige Menschen warten vor dem Gericht in Athen auf den Urteilsspruch.

2012 sind 18 Abgeordnete der Partei „Goldene Morgenröte“ in das griechische Parlament eingezogen. Ein Jahr später wurde der antifaschistische Hip-Hop-Künstler Pavlos Fyssas von einem bekennenden Mitglied der Partei ermordet. Seitdem laufen die Ermittlungen, die nun zu diesem Urteil geführt haben. Mehr als 60 Personen aus dem Umfeld der Partei waren über den Mord an Fyssas, gewaltsame Attacken, illegale Geschäfte und weitere Straftaten informiert. Alle 18 ehemaligen Abgeordneten sind deshalb der Beteiligung an einer kriminellen Organisation für schuldig erklärt worden. Sieben Abgeordnete wurden außerdem der Leitung einer kriminellen Organisation für schuldig befunden – einer noch schwerwiegenderen Anklage.

Das schockierende Verhalten der griechischen Polizei überschattet jedoch dieses Urteil gegen die kriminelle Neonazi-Vereinigung „Goldene Morgenröte“.

Noch am gleichen Tag kam es zu gewaltsamen Angriffen der Bereitschaftspolizei auf die versammelten Menschen, die den Urteilsspruch vor dem Gerichtsgebäude feierten. Die Opfer dieser Attacken – darunter auch Mitglieder von MeRA25 – wurden mitunter so schwer bedrängt, dass sie sich übergeben mussten oder keine Luft mehr bekamen.

„Während der Schuldspruch gegen die Nazis im Athener Gericht ausgesprochen wurde, hat die Bereitschaftspolizei draußen demonstrierende Mitglieder von DiEM25 mit Tränengas attackiert. Wir bekamen keine Luft mehr und mussten uns übergeben, aber schließlich sind wir in eine Nebenstraße entkommen. Ein Einsatztrupp ist uns gefolgt und hat noch mehr Tränengas-Kanister auf uns abgefeuert. Ich appellierte an den Einsatzleiter, damit aufzuhören, weil die Menge inzwischen dabei war, sich aufzulösen. Seine Antwort war: „F*** off!“ Ich zeigte ihm meinen Abgeordneten-Ausweis, und er sagte: „Noch ein Grund mehr, um zu sagen: F*** you!“ Auch wenn einige Nazis nun im Gefängnis landen, ist der Nazismus also immer noch quicklebendig – in den Reihen der Polizei.“

Yanis Varoufakis

Glücklicherweise haben es unsere Mitglieder geschafft, zu entkommen. Doch der Vorfall macht deutlich, dass die Wurzeln des Faschismus tief in unsere Gesellschaft hineinreichen, und dass viel mehr als ein Gerichtsurteil nötig sein wird, um uns von ihnen zu befreien. Unser Kampf geht weiter.

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MMT Einsichten für den Green New Deal

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Der ökologische Umbau der Wirtschaft ist überfällig. Die Einsichten der Modern Monetary Theory (MMT) machen deutlich: Für das Gelingen des Green New Deals muss die Ressourcenfrage und nicht die Finanzierungsfrage im Zentrum stehen. Ein Gastbeitrag von Maurice Höfgen.

Wir rennen gegen die Zeit an. Der ökologische Umbau muss zur wirtschaftspolitischen Priorität erklärt werden. Ressourcen müssen aus umweltschädlichen Bereichen abgezogen und in Bereiche verlagert werden, die mit unseren Umweltzielen verträglich sind. Fossile Energiequellen gehören durch erneuerbare ersetzt. Das heißt: in braunen Bereichen werden Jobs gestrichen, in grünen Bereichen müssen neue Jobs geschaffen werden. Eine große Aufgabe, die im ökonomischen Sinne vielleicht nur mit der Produktionsumstellung in Kriegszeiten zu vergleichen ist. Dort musste die Kriegsindustrie in kürzester Zeit hochgefahren und Ressourcen aus der Konsumgüterproduktion abgezogen werden. Im Kern geht es darum: Wie schaffen wir es, die eine Industrie herunterzufahren und eine neue Industrie hochzufahren, ohne Inflation oder Massenarbeitslosigkeit zu erzeugen?

MMT in a Nutshell

Die zentrale Einsicht der MMT ist, dass ein Staat mit monetärer Souveränität keinen finanziellen Grenzen ausgesetzt ist. Die ökonomische Grenze sind die realen Ressourcen ― von Arbeitskraft bis Rohstoffen ―, die gegen Bezahlung in staatlicher Währung beschäftigt werden können. Neben der ökonomischen gibt es noch politische Grenzen. Damit sind selbst auferlegte Ausgabebeschränkungen gemeint. Prominente Beispiele sind die Schuldenbremse in Deutschland oder die nominale Schuldengrenze in den USA. Die Frage „wie sollen wir das bezahlen?“ ist daher für monetär souveräne Staaten keine ökonomische, sondern vielmehr eine politische.

Der Grad der monetären Souveränität hängt dabei davon ab, ob der Staat seine eigene Währung herausgibt, Steuern in der Währung eintreiben kann, einen flexiblen Wechselkurs verfolgt und keine Fremdwährungsverschuldung eingeht. Der wichtigste Faktor ist dabei, ob eine eigene Währung herausgegeben wird oder nicht.

Auf die Eurozone übertragen: Die einzelnen Mitgliedsstaaten genießen nur einen geringen Grad an Souveränität, da sie mit Eintritt in die Währungsunion ihr Währungsmonopol aufgegeben und an die EZB abgegeben haben. Die Eurozone als Ganzes hingegen erfüllt die Bedingungen für einen hohen Grad an monetärer Souveränität. Der EZB kann die Feuerkraft in Euro nicht ausgehen. Allerdings hat sich die Eurozone mit ihrem institutionellen Design und den selbst gewählten Spielregeln die Hände auf den Rücken gebunden. Denn es gibt keine fiskalische Institution, die von der Feuerkraft der EZB Gebrauch machen kann. Daraus folgt ein chronischer Nachfragemangel, der die hohe Arbeitslosigkeit ― insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit ― und auch den Verfall öffentlicher Infrastruktur als Folge eines Investitionsstaus bedingt.

Es geht um Ressourcen, nicht um Finanzierung

Ökonomisch betrachtet ist die Finanzierungsfrage daher der triviale Part des GND. Das Parlament beschließt die Ausgaben, die für die massive Investitionsoffensive benötigt werden und das Finanzministerium tätigt die Ausgaben. Etwaige politische Hürden sollten dafür politisch gelöst oder umgangen werden. Die Fiskalregeln sind löchrig und könnten im Zweifel technisch umgangen werden, etwa indem die Ausgaben über die Europäische Investitionsbank, deren Anleihen direkt an die EZB verkauft werden können, getätigt werden. Im Sinne der Demokratie sollten jedoch idealerweise Aufklärung betrieben und die politischen Rahmenbedingungen entsprechend reformiert werden.

Im Gegensatz zur Frage der Finanzierung ist die Frage der Ressourcenmobilisierung die wirklich herausfordernde. Die Besetzung des US-amerikanischen Finanzministeriums hat dies, wie die nachfolgenden Zitate zeigen, während des Zweiten Weltkriegs verstanden.1

»Die Hauptprobleme liegen auf der realen, physischen Ebene. Wenn diese gelöst werden können, dann sind alle monetären Probleme potenziell lösbar und stehen einer erfolgreichen nationalen Verteidigung sehr unwahrscheinlich im Weg.«2

»Unser Problem ist deutlich schwieriger als das bloße Auftreiben von Geld.«3

»Die Hälfte der gesamten Produktion der Verfügung des Staates zuzuführen, birgt Probleme, die nicht mit denen von Finanzierungsfragen in Friedenszeiten zu vergleichen sind. Die erste, unweigerliche Überlegung bei Projekten dieser Größenordnung muss es sein, Inflation zu vermeiden.«4

Der Aufbau grüner Industrien, die großangelegte Modernisierung der Infrastruktur ― von Verkehr bis Wohnen ― und die umfassenden Projekte im Bereich der Umweltpflege erfordern einen massiven Bedarf an Ressourcen. Da Ressourcen begrenzt sind, kommt es bei der Bewirtschaftung auf den Auslastungsgrad und die politischen Prioritäten an. Wie schafft man es also, die für den GND benötigten Ressourcen zu mobilisieren, ohne ökonomische Verwerfungen zu erzeugen? Besonders knifflig wird es dann, wenn der Staat für die Umsetzung von GND-Projekten auf Ressourcen angewiesen ist, die bereits woanders beschäftigt und ausgelastet sind, denn dann droht nachfrageseitig induzierte Inflation. Um Inflation zu vermeiden, sollte eine ausführliche und sorgfältige Bestandsaufnahme der ungenutzten und unterausgelasteten Ressourcen nach Branche und Region zentraler Bestandteil der Planungsphase sein. Daraufhin sollte geprüft werden, in welchen Bereichen, durch welche Reformen und in welchem Tempo für den GND brauchbare Ressourcen freigesetzt werden könnten. Hierzu hat der Staat grundsätzlich vier Möglichkeiten: Wettbieten, Steuern, Regulierung und Sparanreize.

Wettbieten: Der Staat kann mit dem Privatsektor um die Ressourcen konkurrieren, indem er zur Gewinnung der Ressourcen höhere Preise, z. B. höhere Löhne für Arbeitskräfte, als der Privatsektor bezahlt. Dies birgt allerdings Inflationsrisiken.

Steuern: Der Staat kann über Steuern der Wirtschaft Kaufkraft entziehen und damit die Gesamtnachfrage reduzieren, wodurch der Privatsektor folglich weniger Bedarf an Ressourcen hat und diese freisetzt. Die dadurch freigesetzten Ressourcen können dann vom Staat genutzt werden. Hier ist bei der Art der Besteuerung darauf zu achten, dass die Ressourcen auch in den richtigen Bereichen freigesetzt werden. Ebenso sind sozialpolitische Auswirkungen zu beachten.

Regulierung: Der Staat kann auch nichtsteuerliche Maßnahmen zur Freisetzung von Ressourcen ergreifen, indem die Regierung etwa Umweltauflagen erlässt, die umweltschädliche Produktionsarten verbieten, oder den Finanzmarkt strenger reguliert, indem beispielsweise gewisse Spekulationsgeschäfte verboten werden. Beides führt zu einer Verkleinerung des jeweiligen Sektors und dem Freisetzen von Arbeitskraft und sonstigen Ressourcen, die sodann staatlich genutzt werden können. Hierzu wären besonders die Wirtschaftsbereiche prädestiniert, die nur eine geringe gesellschaftliche Bedeutung haben oder gar dem Gemeinwohl abträglich sind.

Anreize: Darüber hinaus kann die Regierung versuchen, das Spar- bzw. Ausgabeverhalten der privaten Haushalte zu beeinflussen. Dies wurde tatsächlich von der amerikanischen Regierung während des Zweiten Weltkriegs extensiv betrieben, indem lukrativ verzinste Staatsanleihen und andere Sparanlagen an den Privatsektor ausgegeben wurden und sogar öffentliche Werbung, die zum patriotischen Sparen ermutigte, geschaltet wurde.

Um noch einmal den Bogen zum US-amerikanischen Finanzministerium zu schlagen: Diesem war damals offensichtlich sehr klar, dass der Krieg einen derart großen Anteil der Ressourcen beansprucht, dass der Privatsektor dazu gebracht werden muss, weniger Ressourcen nachzufragen, um einen Preiswettbewerb mit daraus resultierender Inflation zu vermeiden. So liest sich in einem Bericht des damaligen US-Finanzministeriums:

»Der Grund für den Inflationsdruck, der dadurch erzeugt wird, dass die Hälfte des Nationaleinkommens an den Staat gelenkt wird, ist simpel. Es ist Folgendes: Die Wertschöpfung der gesamten Produktion des Landes geht in Form von Löhnen, Gehältern, Renten, Zinsen und Dividenden und Profiten an die Produzenten. Jedoch besteht letztlich nur noch die Hälfte der Produktion aus Gütern und Dienstleistungen, die von diesen Produzenten gekauft werden können. Die andere Hälfte geht zwecks Kriegsführung an den Staat. Das Problem ist, die Menschen davon abzuhalten, ihr gesamtes Einkommen für die verbleibende Hälfte an Gütern auszugeben – und damit lediglich die Preise hoch zu bieten.«5

Die genannten vier Möglichkeiten zur Freisetzung von staatlich benötigten Ressourcen haben alle Vor- und Nachteile und sollten je nach Landeskontext politisch, sozial und ökonomisch einander abgewogen werden.

Steuern sollen steuern, nicht Einnahmen generieren

Die MMT-Sicht auf die Funktionsweise des Geldsystem macht zudem deutlich, dass Steuern keine Einnahmequelle für monetär souveräne Staaten sind. Das kann sowohl logisch als auch buchhalterisch und unter Einbezug aller institutionellen Komplexitäten hergeleitet werden. Der Herausgeber der Währung muss diese erst per Ausgaben oder Kredit in den Umlauf bringen, bevor Währungsnutzer darüber verfügen können. Ausgeben kommt vor Einnehmen. Ausgaben können also im finanziellen Sinne nicht von Einnahmen abhängig sein. Beide Prozesse sollten idealerweise separat voneinander behandelt werden.

Gegenwärtig ist es jedoch so, dass in der Finanzpolitik der Fokus auf die Generierung von Einnahmen die eigentlichen Funktionen von Steuern überschattet. Zu den eigentlichen Funktionen gehören aus Sicht der MMT, dass Steuern eine Nachfrage nach der Währung erzeugen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage reduzieren und damit Ressourcen freisetzen können, der Korrektur von Ungleichheit dienen und Verhaltensweisen beeinflussen können. Wie zuvor erklärt, ist die Funktion der Ressourcenfreisetzung elementar für einen großangelegten Strukturwandel im Sinne eines GND. Dasselbe gilt für die Beeinflussung von Verhaltensweisen. Solange die Politik aber lediglich die Einnahmen jagt, berauben wir uns eines wichtigen Steuerelements. Zwei Beispiele, die das verdeutlichen, sind die Forderungen nach Vermögens- und nach Umweltsteuern zwecks „Finanzierung“ des GND.

Üblicherweise werden bei der Vermögenssteuer niedrige einstellige Steuerraten auf hohe Vermögen gefordert. Unabhängig davon, dass derartige Forderungen politisch schwierig durchzusetzen sind und man sich mit der Robin-Hood-Logik zusätzliche Probleme schafft, weil die Umsetzung des GND dann von der Durchsetzung der Steuer abhängig gemacht wird, erfüllt eine derartige Vermögenssteuer keine relevanten Funktionen. Da Vermögende eine hohe Sparquote haben, ändert eine Vermögenssteuer nichts an deren Konsumverhalten und setzt folglich auch keine Ressourcen für den GND frei. Selbst die Ungleichheit wird durch die üblicherweise niedrigen Steuerraten, die gefordert werden, nicht signifikant korrigiert.

Ebenso neigen Progressive dazu, schädliches Verhalten zwecks Einnahmengenerierung für den GND besteuern zu wollen. Beispiele hierfür sind die CO2-Steuer, die Plastiksteuer oder die Finanztransaktionssteuer. Der Zweck der Steuer, das Verhalten über den Preis zu beeinflussen, wird jedoch durch das Einnahmemotiv verfälscht. Denn eine Verhaltenssteuer ist dann erfolgreich, wenn die daraus resultierenden Steuereinnahmen so gering wie möglich sind ― am besten null. Nur dann wurde nämlich das schädliche Verhalten eingestellt. Verhaltenseinstellung und Einnahmengenerierung sind also konkurrierende Zielsetzungen. Wer über Steuern glaubhaft Verhalten verändern will, sollte nicht auf die Einnahmen setzen. Wer das tut, verzettelt sich in Widersprüchen. Andersherum stellt sich hier die Frage: Warum sollte schädliches Verhalten überhaupt mit Steuern erkauft werden können und nicht stattdessen per Gesetzgebung untersagt werden?

Den Staat und dessen Möglichkeiten neu denken

Die gesellschaftlichen Herausforderungen sind groß. So groß, dass wir uns nicht länger leisten können, unsere Wirtschaftspolitik auf falsche theoretische Grundlagen zu bauen. Die ökonomische Linse der MMT liefert neue Einsichten. Daraus lassen sich neue Lösungsvorschläge entwickeln.

Im Kern des GND muss die Ressourcenfrage und nicht die Finanzierungsfrage stehen. Die Zitate des US-amerikanischen Finanzministeriums machen das deutlich. Ebenso wie es im Zweiten Weltkrieg nicht um das Auftreiben von Geld zur Mobilisierung nationaler Ressourcen ging, geht es auch beim GND nicht um Geld, sondern um die optimale Bewirtschaftung knapper realer Ressourcen mit dem Ziel der Maximierung des Gemeinwohls – einem hohen Lebensstandard, sozialer Sicherheit, ökologischer Nachhaltigkeit und Finanzstabilität. Das Geldsystem ist das zentrale Instrument, um die verfügbaren Ressourcen entsprechend der demokratisch legitimierten Zielvorstellungen zu steuern.

Solange wir jedoch die Funktionsweise des Geldsystems nicht verstehen bzw. uns unsinnige politische Spielregeln auferlegen und das System zweckgemäß bedienen, sind wir wie ein Autofahrer, der mit der Gangschaltung nicht umgehen kann und sein Auto ständig abwürgt. Es wird Zeit, dass wir dieses wirkungsvolle Werkzeug verstehen. Genau hier setzt die ökonomische Denkschule der MMT an. Sie liefert das Handbuch zum Umgang mit dem Geldsystem und stellt einen Paradigmenwechsel in Sachen Wirtschaftspolitik in Aussicht.

 

Über den Autor

Maurice Höfgen, Autor von „Mythos Geldknappheit“, ist studierter Ökonom und Betriebswirt. Hauptberuflich ist er derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag tätig. Neben dieser Tätigkeit betreibt er unabhängige Forschung, wobei er sich vorwiegend auf die Modern Monetary Theory (MMT) stützt. Seine neusten Publikationen sowie weiterführende Informationen finden Sie unter www.mauricehoefgen.com und https://modernmonetarytheory.de/artikel-mmt.

 

1 Zum Kontext: In Verbindung mit der Umstellung auf Kriegsproduktion stiegen die Staatsausgaben der USA innerhalb weniger Jahre von 10 % auf 45 % relativ zum Bruttoinlandsprodukt an. Das Staatsdefizit betrug zwischen 1942 und 1945 zwischen 12 und 26 % – all dies, ohne instabile Zins- oder unkontrollierbare Inflationsverhältnisse zu erzeugen.

2 Treasury (1940). Some Fundamental Considerations With Respect to Defense Finance. 11 Dec 1940. Henry Morgenthau Jr. Papers, 1866–1953; Diaries of Henry Morgenthau Jr. April 27, 1933–July 27, 1945; Book 338, December 10–11, 1940, S. 355–360.

3 Morgenthau, H. (1944). Annual report of the Secretary of the Treasury on the state of the finances for the fiscal year ended June 30, 1945. Paper presented at the Addresses by Secretary of the Treasury to conferences of war finance, New Orleans, S. 328–334.

4 Morgenthau, H. (1945). Summary Report of Secretary Morgenthau to the Congress. 21 July 1945. Exhibit 51, H.Doc. 409 (Serial Set Vol. No. 11068, Session Vol. No. 29), S. 397–431.

5 United States. Dept. of the Treasury (1944). Annual Report of the Secretary of the Treasury on the State of the Finances for the Year: U.S. Government Printing Office, S. 408.

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Das Belmarsh Tribunal: Wir unterstützen Assange

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Das Belmarsh Tribunal wird die US-Kriegsverbrechen im 21. Jahrhundert untersuchen und Julian Assange’s Recht verteidigen, sie zu veröffentlichen.

Die Progressive Internationale (PI) wird am Freitag, dem 2. Oktober, eine weltweite Gruppe von Aktivist*innen, Künstler*innen, Denker*innen und politischen Vertreter*innen einberufen, die Julian Assange im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit gegen die Auslieferung an die Vereinigten Staaten zur Seite stehen.

M.I.A., Rafael Correa, Pamela Anderson, Lula da Silva, Rafael Correa, Roger Waters, Yanis Varoufakis, Slavoj Žižek und andere Persönlichkeiten fordern bei einer Veranstaltung der Progressiven Internationale die Freilassung von Assange.

Die Veranstaltung findet von 0900-1200 EST, 1500-1800 CET, 1830-2130 IST statt.

Link zur Registrierungsseite

Freitag ist der letzte Tag der Zeugenaussagen im Auslieferungsprozess gegen Assange.

Die öffentliche Veranstaltung mit dem Titel „We Stand with Assange“ findet online statt. Dabei werden die Musikerin und Aktivistin M.I.A, Roger Waters von Pink Floyd, der ehemalige Präsident Ecuadors Rafael Correa, der ehemalige Präsident Brasiliens Lula, der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, die Schauspielerin und Aktivistin Pamela Anderson, der britische Abgeordnete John McDonnell, der Philosoph Srećko Horvat, Assanges Anwältin Jennifer Robinson, die ehemalige argentinische Diplomatin Alicia Castro, der Philosoph Slavoj Žižek und viele Andere zu Wort kommen.

Die Veranstaltung, die vom Russell-Sartre-Tribunal im Jahr 1966 inspiriert ist, als Vertreter von 18 Ländern zusammenkamen, um die Vereinigten Staaten für ihre Kriegsverbrechen in Vietnam zur Rechenschaft zu ziehen, wird über zahlreiche Plattformen live übertragen und steht der Öffentlichkeit zur Registrierung offen.

Der kroatische Philosoph und PI-Kabinettsmitglied Srećko Horvat, der die Veranstaltung leiten wird, sagte:

“1966, als keine internationale Behörde es wagte, die Vereinigten Staaten für Kriegsverbrechen in Vietnam zur Rechenschaft zu ziehen, versammelten die Philosophen-Aktivisten Betrand Russell und Jean-Paul Satre Vertreter aus 18 Ländern, um das selbst zu tun.

Die Veranstaltung am Freitag wird die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika für ihre Verbrechen im 21. Jahrhundert – von den Gräueltaten im Irak über die Folter in Guantánamo Bay bis hin zum illegalen Überwachungsprogramm der CIA – vor Gericht stellen und die Aufmerksamkeit auf den wegen seiner Enthüllungen begonnenen Auslieferungsprozess Julian Assanges lenken – ein Fall, der die Zukunft des Verlagswesens, des Journalismus, der Redekunst und der Demokratie für die kommenden Jahrzehnte prägen wird.

Wikileaks war eine Inspiration für soziale Bewegungen auf der ganzen Welt. Jetzt ist es an der Zeit, dass die sozialen Bewegungen an Assanges Seite stehen. Unsere kollektive Freiheit steht auf dem Spiel.“

Weitere Informationen über die Progressive Internationale: progressive.international.

Proteste in Bulgarien: Exklusiv-Interview mit den Koordinatoren des anhaltenden Anti-Korruptionsaufstandes

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Tag 33 der Proteste in Sofia, Bulgarien: Interview mit Nikolay Hadjigenov und Arman Babikyan

Am 10. August 2020 gab es ein Treffen zwischen Mitgliedern des DSC Sofia1 von DiEM25 und zwei Mitgliedern des „Vergiftungstrios“, Nikolay Hadjigenov und Arman Babikyan, die weithin als Initiatoren und Koordinatoren der antitotalitären und pro-demokratischen Proteste des Jahres 2020 in Bulgarien gelten.

Nachstehend das ausführliche exklusive Interview:

Am 9. Juli 2020 riefen Sie in sozialen Medien zu einer Versammlung vor dem Präsidentschaftsgebäude zur Verteidigung der Demokratie auf. Warum haben Sie das getan? Was waren Ihre Motive?

Bild 1: Das „Vergiftungstrio“ vor dem Amtssitz des Präsidenten in Sofia. Von links nach rechts: Arman Babikyan, Prof. Svetoslav Minekov, Nikolay Hadjigenov

NH: Zunächst einmal haben wir nie eine echte Demokratie gehabt. Was wir haben, ist eine Imitation der Demokratie. Am 3. Juli wurde deutlich, dass diese Imitation eher wie Putins Russland aussieht. Ein Trupp der neu eingerichteten Sicherheitseinheit der Generalstaatsanwaltschaft, die keine polizeiliche Freigabe hat, betrat kürzlich voll bewaffnet das Präsidentschaftsgebäude, um in zwei Büros eine Durchsuchung durchzuführen und einen Sekretär des Präsidenten festzunehmen. Dieses Vorgehen verstößt gegen jedes Gesetz in Bulgarien. Mein Vorwurf an den damaligen Chef des Nationalen Sicherheitsdienstes war nicht umsonst. Ich versicherte, dass, wenn ich den Dienst leiten würde, keine bewaffneten Personen das Gebäude betreten würden. Solche Handlungen können von einem Beamten durchgeführt werden, der eine Papiermappe unter dem Arm trägt. Das war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen gebracht hat.

AB: Das war die formale Rechtfertigung. Was Herr Hadjigenov erwähnte, war nur der Funke, der die Proteste entzündete. Die Ursache jedoch war eine Antikorruptionsrebellion. Es ist ein AntikorruptionsaAufstand, der allen Bürgern gehört, weil sie es leid waren, die Kränksten und Ärmsten in Europa zu sein, unter der Führung eines Staates, der seine Institutionen benutzt, um gegen Gegner vorzugehen, anstatt dem Volk zu dienen.

Die Menschen zahlen Steuern und werden verfolgt, wenn sie mit den Machthabern nicht einverstanden sind. Sie werden der Macht nicht als Bürger*innen, sondern als Vasallen unterworfen. In diesem Sinne wird die Antikorruptionsrebellion, die sich buchstäblich auf die Straßen ergoss, von viel gewichtigeren und tieferen gesellschaftlichen Motiven getragen. Und deshalb dauert der Protest immer noch an.

Tausende von Bulgaren im In- und Ausland folgten Ihrem Aufruf. Welche Menschen sehen Sie bei den Protesten? Was hat sie Ihrer Meinung nach mehr als 30 Tage lang zusammengehalten? Haben die Protestierenden irgendwelche spezifischen Forderungen und Ziele?

Bild 2: Demonstrant*innen auf dem Nezavisimost („Unabhängigkeits-) Platz in Sofia, auch „Dreieck der Macht“ genannt.

NH: In der ersten Aufforderung sagten wir, dass es jetzt an der Zeit sei, dass wir alle zusammenkommen, was in unserem Land noch nie geschehen ist. Und wahrscheinlich zum ersten Mal in unserer bisherigen Geschichte spielt es keine Rolle, welcher Ethnie Sie angehören (in Bulgarien gibt es mehrere Ethnien), wen Sie unterstützen oder wen Sie ablehnen. All das spielt keine Rolle. Wir haben uns alle versammelt, um für unsere Freiheit zu kämpfen. Die Forderungen sind einfach: Rücktritt der Regierung Borissow wegen Korruption. Das einzige Thema, bei dem Bulgarien den 1. Platz in der EU einnimmt, ist die Korruption. In allem anderen sind wir Letzter.

Die zweite Forderung ist der Rücktritt des Generalstaatsanwalts, weil er von den Politikern an der Macht wie ein Knüppel für Razzien benutzt wird. Und die dritte Forderung ist eine Änderung, um zu verhindern, dass sich dies wiederholt. Wir brauchen eine Änderung des Systems und der Grundprinzipien der Regierungsführung, oder eine Änderung der Verfassung. Wir fordern wahre Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, keine Korruption. Das sind große Ziele, aber so sollte den Menschen gezeigt werden, dass wir nicht bei Rücktritten stehen bleiben werden. Wir wollen grundlegende Veränderungen.

AB: Das sind die Ziele, ja. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Einige von ihnen sind schnell zu erreichen, und wir stehen deswegen auf der Straße. Die anderen sind Gegenstand eines Prozesses und einer Arbeit unterschiedlicher Art, von Expertise und politischer Repräsentation. Und wir sind bereit, den ganzen Weg zu gehen, bis zum Ende.

Abgesehen davon, dass Sie die Proteste initiiert haben, sagen einige, Sie würden sie auch koordinieren. Was bedeutet es für Sie, jeden Tag auf der Straße zu sein?

Bild 3: Das „Vergiftungstrio“ und Demonstrierende auf dem Nezavisimost Platz in Sofia.

NH: Nun, lassen Sie mich den Generalstaatsanwalt verspotten. Wir sind Anstifter des Protests, was eine Art Komplizenschaft bei einem Verbrechen darstellt. Aus dem einen oder anderen Grund haben wir das Feuer entzündet, das schon seit einiger Zeit brennt. Wir haben 33 Tage hintereinander gekämpft, um den Protest völlig bürgerlich zu halten. Wie überall gibt es eine Fülle von Interessen, die an dem Protest beteiligt sind. Es gibt Partei- und Geschäftsinteressen. Alle Arten von Interessen, die man sich vorstellen kann. Den Protest bürgerlich zu halten, ist unser bescheidener Sieg, und ich bin außerordentlich glücklich darüber, denn dies ist eine weitere Sache, die hier noch nie zuvor geschehen ist.

Ja, wir haben alle Parteien eingeladen. Das gesamte politische Spektrum ist vertreten, alle sind hier. Niemand mischt sich ein, niemand nimmt das Mikrofon in die Hand, aber alle sind hier, alle zusammen, was ein brillantes Beispiel für die Vereinigung ist. Eines Tages – ich weiß nicht, ob wir dann noch am Leben sein werden – wird es ein vereintes Europa geben, europäische Bürger, amerikanische Bürger… und eines Tages wird es nur noch Erdenbürger geben. Aber das ist zu weit weg.

AB: Ja, das ist der große Erfolg dieses Protests. Wir waren zufällig ein Trio, das der Macht außergewöhnliches Unbehagen bereitete. Wenn wir Vertreter einer Partei wären, unabhängig von ihrer Position im politischen Spektrum, wären wir ziemlich schnell „einverleibt” worden in die Verteidigung von linken, rechten, grünen, zentristischen oder anderen Ideen. Wir haben gezeigt, dass wir uns an der Macht außerordentlich unwohl fühlten, weil wir nicht geeignet waren, „einverleibt” zu werden. Natürlich wurde, wie in jeder Diktatur, eine Diffamierungskampagne gegen uns gestartet. Wir haben damit gerechnet. Wir sind einigermaßen intelligent. Aber wovon sie sich nur schwer erholen konnten, ist gerade die Tatsache, dass alle Bulgaren unabhängig von ihrem Glauben auf der Straße sind. Das letzte Mal geschah dies während der Fußballweltmeisterschaft 1994 in den Vereinigten Staaten.

Der Präsident hat sich ein paar Mal mit Demonstrierenden getroffen. Wie interpretieren Sie seinen Ruf „Mutri (=Mafia) raus!“ Wer sind die „Mutri“?

Bild 4: Der Präsident von Bulgarien trifft Demonstrierende vor dem Amtssitz des Präsidenten auf dem Nezavisimost Platz, Sofia.

NH: Dies ist ein rein emotionaler Appell, der nicht ganz unwahr ist. Er entspricht der gegenwärtigen Situation, weil die Handlungen des Generalstaatsanwalts genau „mutra”-artig sind. Im Wesentlichen handelt es sich um regelrechtes Banditentum.

Das erklärt die Reaktion des Präsidenten, der „Mutri raus!” ruft. Es war eine extreme Reaktion auf eine extreme Aktion. Eine energische und extrem illegale Aktion, die sogar der Präsident verstanden hat, denn unser Präsident ist eher wie die deutsche Regierungschefin – er geht nicht in die Konfrontation. Sein Aufruf brachte zunächst eine Art konkreten Aufruf in den Protest, denn es gibt keinen Bulgaren, der nicht in den letzten zehn Jahren unter den „Mutri” an der Macht gelitten hat. Dieser Satz wurde also von der Bevölkerung voll und ganz verstanden.

AB: So wird die Mafia unter den Bulgaren im Volksmund genannt. „Mutri” waren diejenigen, die zu Beginn der Übergangszeit, also vor etwa 30 Jahren, den Leuten die Autos stahlen. Sie gaben sich als Versicherer aus, klebten Aufkleber und sammelten von allen Geld ein. Das war so etwas wie die alte Bashi-Bazouk-Steuer während des Osmanischen Reiches, aber in der Gegenwart hat sie sich in eine Gaunerei verwandelt: gewöhnliche Gaunereien. Jetzt sind diese Leute klüger geworden, sind reich genug geworden und haben das Land gekauft. Wir stimmen jetzt in einem Land ab, das vor langer Zeit gekauft wurde, und sein Premierminister ist ein hochrangiger Vertreter einer solchen Vereinigung von „Mutri”.

Daher versteht jeder, worum und um wen es hier geht. Die Bezeichnung ist einfach und der Adressat präzise. Der Premierminister verhält sich genau so. Wenn Sie zu einem Protest hinausgehen, würde er auf der Gegenseite Geiseln nehmen und sie nur dann freilassen, wenn Sie darauf verzichten, seine Macht einzufordern. Sie werden sehen, dass er heute oder spätestens morgen mit Drogen verteilenden Verbrechersyndikaten in Kontakt treten oder mit ihnen verhandeln wird, die wahrscheinlich überall in der Stadt Knotenpunkte besetzen und den Rücktritt des Präsidenten fordern werden. Sie können als Vorbedingung für die Räumung der Knotenpunkte den Rücktritt des Präsidenten fordern. Oder sie können einen Austausch verlangen – Rücktritt gegen Rücktritt. Mit anderen Worten, die Verhöhnung der Demokratie wird immer weitergehen, solange diese Person (Borisov) an der Macht ist.

Die parlamentarische Opposition, einschließlich anderer Parteien und Bewegungen, rief ihre Mitglieder und Anhänger auf, sich den Protesten anzuschließen. Nach der Teilnahme an einer abendlichen Talkshow wurde die Anführerin der parlamentarischen Opposition jedoch von Demonstranten ausgepfiffen. Was bedeutet das für Sie?

NH: Dies ist – in der Tat – ein großartiges Zeichen, denn in unserem Land gibt es die parlamentarische Opposition nur auf dem Papier. Und das war der Grund, warum Kornelia Ninowa, die Vorsitzende der BSP [der Bulgarischen Sozialistischen Partei], ausgepfiffen wurde. Denn in all den Jahren, in denen sie gemeinsam mit Borisov regierten, kamen sie zu politischen Abmachungen, die aus seinem früheren Mandat als „historische Kompromisse” bekannt sind, die einen historischen Seitenhieb auf das Volk, seine politischen Rechte, das Gesetz usw. darstellen. Und die Menschen kaufen ihnen das nicht ab.

Tatsächlich haben drei von uns politische Parteien und Syndikate, die das „dritte Bein” jeder Regierung in unserem Land sind, gebeten, ihre Anhänger aufzurufen, sich dem Protest anzuschließen. Das hat nicht geklappt. Wie erwartet, waren diejenigen, die antworteten, die Führungskräfte einer Bürgerbewegung, ein ehemaliger Politiker aus dem linken politischen Spektrum und eine sehr kleine, außerparlamentarische Partei, die durch einen ihrer stellvertretenden Vorsitzenden ihre Anhänger halbherzig zur Teilnahme am Protest aufrief. Es ist gut, dass sie beide hier sind. Aber sie sind in keiner Weise Teil der parlamentarischen Opposition. Die Opposition kam aus dem Parlament und sagte: „Ja, wir gehen auf die Straße, um uns den Demonstranten anzuschließen”, und 30 Abgeordnete kamen.

AB: In erster Linie ist dies ein Protest der Bürgerinnen und Bürger. Ein Protest der unorganisierten, aber rechtschaffenen Bürger*innen, die ihre persönlichen und bürgerlichen Rechte schätzen. Deshalb sind die meisten Menschen bei den Protesten Bürger*innen und nicht organisierte Gruppen von Menschen. Die Stärke des Protests liegt in der persönlichen Erkenntnis jedes einzelnen Bulgaren und jeder einzelnen Bulgarin, dass es eines Staates bedarf, der ihnen dient, und nicht eines Staates, der sie terrorisiert, verarmt, beraubt und zu Vasallen macht.

Wie würden Sie den Aufruf „Alle raus!“ interpretieren?

NH: „Mutri raus!” hat sich gesteigert zu „Alle raus!”, weil die Menschen erkannt haben, dass alle Politiker*innen, die im Parlament sitzen, ihre eigene Agenda verfolgen, anstatt ihren Wählern zu dienen. Sie sind nicht für das Volk da. Irgendwann entwickelte sich der Protest von „Mutri raus!” zu „Alle raus!”. Dies wird höchstwahrscheinlich der nächste Schritt sein, aber wir müssen sowieso zuerst der „Mutri” habhaft werden.

AB: Wir sind uns bewusst, dass es auch ehrenwerte Politiker*innen gibt. Aber bei der Forderung „Alle raus!” geht es mehr um eine Veränderung des Systems, eine Forderung nach dessen Ablösung durch echte Demokratie, echte Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Fairness, die im Rahmen des Gesellschaftsvertrags auf natürliche Weise funktionieren. Im Moment gibt es hier nichts dergleichen. Deshalb ist „Alle raus!” kein Aufruf, der bestimmte Personen benennt, denn die Korruption hat nicht nur die Machthaber*innen zerfressen.

Die Korruption hat das ganze System durchzogen, unabhängig davon, ob man an der Macht ist oder in der Opposition (oder wie immer man es nennen soll). Korruption hat keine Farbe, sie ist außerordentlich flexibel. Sie ist weich wie Butter. Sie nutzt alle Nischen, um durch das soziale Gewebe zu gelangen. In diesem Sinne ist „Alle raus!” eher ein Aufruf, ein System zu beseitigen, als eine bestimmte Person.

Wie beurteilen Sie die Aktionen der Machthaber und der Regierung seit Beginn der Proteste (z. B. Ministerwechsel, Notsubventionierung der Renten) und die Tatsache, dass das Parlament in den Sommerurlaub gefahren ist, während so viele Menschen in Bulgarien und im Ausland auf der Straße sind?

Bild 5: Bulgarische Saisonarbeiter*innen nehmen an den Protesten teil

NH: Die „Mutri” hier und die Mafia im Allgemeinen versuchen, auf die einzige ihnen bekannte Weise zu arbeiten – durch Korruption. Sie versuchen, uns zu kaufen, die Opposition zu kaufen und generell alles und jeden zu kaufen. Es hat nicht funktioniert, es wird nicht funktionieren. Das Transparent, das am Tag, nachdem Borisov jedem bulgarischen Rentner 50 Lv (ca. 25 Euro) versprochen hatte, erschien, ist symptomatisch. Ein vornehmer Herr erschien mit einem riesigen Transparent, auf dem geschrieben stand: „Borisov, du kannst dir meine 25 Euro in deinen A… schieben!”. Das Plakat zeigt auf brillante Weise die Haltung des Volkes. Und das haben sogar die bulgarischen Rentner*innen – die seit Generationen so primitiv gekauft werden – verstanden.

In der Zwischenzeit haben wir letzte Woche ein Spendenkonto eröffnet, und seitdem versuchen jeden Abend 3 bis 4 Rentner, uns ihre 25 Euro anzubieten. Und weil wir kein Bargeld bekommen, sind wir gezwungen, sie um eine Banküberweisung zu bitten. Aber dies ist ein weiteres Beispiel für Extreme. Sie können jetzt den Einstellungswandel sehen. Es sind nicht nur frustrierte Bürger, die uns ihre 25 Euro anbieten. Das ist ein Trend. Die Menschen haben endlich verstanden, dass sie sich nicht kaufen lassen sollten, obwohl ihnen 25, 50 oder 100 Euro angeboten werden.

AB: Wir sprechen wieder über Aktionen von Mafiosi. Sie versuchen, sich mit unserem Geld zu rehabilitieren. So verhalten sie sich bei Wahlen. Sie bestechen die Wähler*innen mit 25 Euro, 10 Euro oder 50 Euro und erwarten eine Abstimmung. Diese einmalige „Investition” durch Bestechung bringt jedem Steuerzahler das Zehn- oder Zwanzigfache ein. Und jetzt versuchen sie wegen der Proteste den gleichen Betrug.

Wie empfinden Sie einerseits die Erklärung der Europäischen Volkspartei (EVP) zur vollen Unterstützung und zum Vertrauen in die Regierung Borissow und andererseits den Appell des bulgarischen Präsidenten, dass die EU die Augen vor den Geschehnissen im Land nicht verschließen sollte?

Bild 6: Manfred Weber (EVP) und Boyko Borisov, Anführer der Regierungspartei (GERB/EVP) und Premierminister von Bulgarien

NH: Die Erklärung der EVP enthielt nichts anderes als einen Aufruf zu ihrer eigenen Unterstützung. Wir beobachten die deutschen Medien, die hier seit dem 3. Tag auf der Straße sind. Alle großen deutschen Medien sind hier, und sie richten schreckliche Kritik nicht nur an Bojko Borissow, sondern direkt an Merkel. Denn im Grunde genommen offenbart die korrupte, wenn auch “weiche” Regierung Borisovs – und das ist der Grund, warum er Europa nicht beunruhigt – einen großen Mangel in der [Europäischen] Union. Das ist eine Frage Europas! Erstens wird das Geld der europäischen Steuerzahler gestohlen. Zweitens: Dieses Verhalten lässt uns eher wie Erdogans Türkei oder Putins Russland aussehen. Oder mit anderen Worten – und lassen Sie es mich vorsichtig formulieren – wir sehen eher wie undemokratische Staaten aus als ein EU-Mitgliedstaat. Ich meine, das ist absurd! Ist es möglich, dass ein EU-Mitgliedstaat pro-russisch, pro-chinesisch oder generell pro-die-andere-Küste ist? Das hat nichts mit Demokratie zu tun.

Und das ist jetzt ein Problem für die EU. Solche Kritik, die große französische und andere europäische Medien an ihre Behörden richten, ist nicht vergeblich. Im Gespräch mit einigen der großen europäischen Medien habe ich gefordert, dass unsere Finanzierung gestoppt und Sanktionen gegen Bulgarien verhängt werden. Denn die EU-Mittel, die hier absorbiert werden, betragen nur wenige Milliarden Euro pro Jahr. Verglichen mit dem BIP des Landes ist ein solcher Betrag vernachlässigbar gering. Aber der Haushalt, der hier gestohlen wird, der bulgarische Haushalt, ist zehnmal so hoch. Es gibt hier ein Problem, das die gesamte Union betrifft, und vielleicht haben europäische Politiker*innen zum ersten Mal erkannt, dass dies keine Frage ist, die nur Bulgarien betrifft. Ja, wir sind ein souveränes Land, und ja, dies ist ein internes Problem. Aber diese Wunde ragt aus dem Rücken der EU heraus. Sie muss entfernt werden, sonst verwandelt sie sich in einen Tumor, der praktisch die gesamte Union zersetzen wird.

AB: Als GERB der EVP beitrat, waren sie ein unbekannter Haufen von Leuten, die den Vorsitzenden der EVP versprachen, dass sie ihnen 5-6 Sitze aus Bulgarien für ihre Fraktion in Brüssel zur Verfügung stellen würden. Das funktionierte für die EVP. Sie stimmten schnell zu. Aber das zeigt ein großes Problem auch der europäischen politischen Familien. Dasselbe gilt übrigens auch für die SPE. Diese Leute waren zuversichtlich, dass sie Borisovs Schritte diktieren könnten, ungeachtet der Warnungen, dass diese Person keine etablierten europäischen Werte hat. Sie schlossen schnell die Augen und schluckten dies mehr als 11 Jahre lang hinunter. Und wie es scheint, schluckten sie es bereitwillig. Sie bekamen, was sie brauchten. Nämlich die Stimmen für ihre europäische Familie im Parlament in Brüssel und Straßburg. Die europäischen Werte waren ihnen völlig egal.

Der Kampf zwischen Deutschland und Frankreich um die Führung in Europa zeigt, dass wir kein Brüssel haben. Stattdessen haben wir etwas anderes. Bei den Protesten in Bulgarien waren die ersten, die reagierten, die USA, nicht die EU. Bis jetzt haben wir eine einzige Erklärung des Sprechers der Europäischen Kommission, der – auf diplomatische Weise – sagte, dass die Proteste legitim sind und darum bat, Toleranz walten zu lassen, weil es ein Budget gibt, das im Herbst bereitgestellt werden soll. Mit anderen Worten, dies ist ein Hinweis darauf, dass Bulgarien sanktioniert werden könnte, wenn die Macht gegenüber den Demonstranten hart vorgeht.

Und dies ist ein weiteres Beispiel, wo die EU zeigt, dass die Nichtexistenz einer europäischen Regierung, sondern nur eines gemeinsamen Außenministers, der langsam reagiert – egal, ob es um den Krieg in Syrien oder die Proteste in Bulgarien geht – ein Modell ist, das nicht gut funktioniert. Föderales Europa ist die Antwort auf die übliche Frage der USA:– „Entschuldigung, wen soll ich eigentlich in der EU anrufen?“ Und sie kennen die Telefonnummer nicht. Wir in Bulgarien wissen sie auch nicht. Auch wenn wir bemerkenswert gut wissen, welche Rolle die Konrad-Adenauer- und Hanns-Seidel-Stiftungen für die Existenz von GERB auf der europäischen politischen Bühne spielen, wissen wir auch, welche Funktionäre des BND und der anderen deutschen Dienste unter dem Deckmantel dieser ansonsten angesehenen Stiftungen arbeiten, die übrigens vom deutschen Staat und nicht von privaten Spendern finanziert werden.

Wir sind also nicht nur ein paar aufbegehrende und protestierende Bürger*innen auf den Straßen Sofias. Wir sind gut informiert, und wenn dieses Verhalten Berlins und der anderen passiven europäischen Hauptstädte anhält, können wir noch mehr Geschichten erzählen, die, wie ich vermute, nicht gerade angenehm zu hören sein werden.

Sie fordern eine Radikalisierung des Protestes. Wie meinen Sie das? Wie würden Sie auf die Anschuldigungen der Machthaber reagieren, dass Sie auf Gewalt und Terrorismus drängen?

Bild 7: Der von Demonstrierenden besetzte Orlov Most-Platz in Sofia

NH: Nun, das ist völliger Unsinn. Ähnliche Proteste hat es weder hier noch anderswo in Europa gegeben. Dies sind die friedlichsten Proteste in Bulgarien in den letzten 30 Jahren oder länger. Solche friedlichen Proteste hat es in Europa noch nie gegeben. Unser Protest wäre mit so etwas wie einem Protest von dreijährigen Kindern auf den Straßen Berlins zu vergleichen. Was wir tun ist hier eine Zivilgesellschaft zu schaffen. Wir wecken sie auf, wir zünden das Feuer an, wir wickeln es ab, wir erklären und lehren die Menschen nicht nur wie, sondern auch was es heißt, Bürger zu sein. Und wir eskalieren aus den gleichen Gründen. Wir haben mit Trillerpfeifen und Vuvuzelas begonnen. Dann ging es weiter mit dem Werfen kleiner Tomaten. Dann eskalierten wir zum Werfen von Wachteleiern, jetzt werfen wir Hühnereier. Wir schaffen hier buchstäblich eine Zivilgesellschaft.

Wir führen sie Hand in Hand, Schritt für Schritt, um anderen Ländern in Europa ebenbürtig zu sein. Denn die Proteste in Europa sind jetzt äußerst friedlich. Doch damit Europa solche friedlichen Proteste erreichen konnte, musste es einen langen Weg zurücklegen. Es brennt jedes Mal, und es hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gebrannt.

Als ich zum Beispiel kürzlich in Rom war, gab es einige Missverständnisse zwischen den Studierenden und der Regierung. Innerhalb von zwei Stunden gruben die Studierenden die Pflastersteine auf dem zentralen Platz von Rom aus, brannten Autos aus, drehten alles um, zerschlugen Schaufenster, und das Problem wurde noch am selben Abend gelöst. Am nächsten Tag wurden die Pflastersteine wieder in Ordnung gebracht, der Müll wurde herausgebracht, und sie alle zogen weiter. Solche Situationen haben wir nur im Fernsehen gesehen und in Büchern gelesen. Jetzt lehren wir die Menschen, dass dies die Art und Weise ist, wie die Dinge geschehen sollten. Die Magna Carta wurde vor etwa 800 Jahren geschrieben. Und Europa hat seitdem einen langen Weg zurückgelegt. Wir hingegen haben diesen Weg irgendwie verpasst. Wir tun dies und das, und man könnte es als Schulbildung betrachten. Wir gehen vorwärts. Das ist es, was wir tun.

Die Vorwürfe des Terrorismus sind amüsant. Unsere Gouverneure sind Idioten, nicht nur in ihrer rechtlichen Kompetenz, sondern generell. Es ist schon seit Jahrhunderten überall auf der Welt allgemein bekannt, was Terrorismus ist. Offensichtlich fallen wir in keine der Kategorien und Anschuldigungen des Terrorismus. Solche Anschuldigungen sind typisch für totalitäre Länder – Nordkorea, China, Erdogans Türkei ist ein Beispiel, das näher an Europa liegt, und Putins Russland. Sind wir also Terroristen? Nein, oder? Propaganda!

AB: Terror ist eine besondere Art von Aktion, und gegenwärtig ist es der Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger terrorisiert. Die Antwort, die sie gewöhnlich geben, ist, dass sie durch rechtmäßige Wahlen an die Macht gekommen sind. Nun, Hitler kam auch durch rechtmäßige Wahlen an die Macht. Aber das macht die Verbrechen gegen die Juden, die Verbände, die Gewerkschaften und letztlich alle deutschen Bürgerinnen und Bürger nicht weniger terroristisch im Namen der rechtmäßig gewählten deutschen Macht. Die Tatsache, dass jemand rechtmäßig gewählt wurde, sogar durch Stimmenkauf, während Europa seine Augen verschlossen hält, ändert nichts am Verhalten ihrer Regierung.

Sehen Sie, eines der schönsten Dinge, die uns passiert sind, ist unser Eintritt in die EU. Wir machen uns darüber keine Illusionen. Aber für uns ist die EU mehr als nur Ausflugsreisen und Gastarbeit. Die EU ist der Ort, an dem wir gemeinsame Visionen von Entwicklung haben, von unserer gemeinsamen Entwicklung. Wir wurden zum einen aufgenommen, weil wir schon 2007 bereit waren, der EU beizutreten, und dieser Wille ist bis heute unumstößlich. Und zum anderen aufgrund der Tatsache, dass die EU nach dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien und dem Kosovo-Konflikt dringend die südöstliche Flanke der NATO stärken musste.

Glücklicherweise fielen diese beiden Tendenzen zusammen, und wir wurden ein EU-Mitgliedsstaat. Aber das bürgerliche Wachstum, von dem Nikolay sprach, fand nicht statt. Und das ist es, was jetzt geschieht. Wenn das Land damals ein EU-Mitgliedsstaat wurde, werden die Bürger*innen heute zu Europäer*innen.

Bei einigen wenigen Gelegenheiten führten Menschen, die Gesichtsmasken trugen, Aktionen durch, die als Provokationen und Gewalt gegen Demonstrierende und Journalist*innen bezeichnet werden konnten. Wie würden Sie das erklären?

Bild 8: Eine Journalistin der bulgarischen Sektion der RFE/RL (links), die auf einer von GERB/EVP, der derzeitigen Regierungspartei Bulgariens, organisierten Konferenz von einer Person mit Gesichtsmaske angegriffen wurde

NH: Totalitärer Trick. Es gibt nur eine einzige Erklärung. Wir haben es hier mit einem Totalitarismus zu tun, auch wenn er als „weich” bezeichnet wird. Aber jeder, der ihn persönlich mit dem unteren Teil seines Rückens erlebt hat, kann Ihnen sagen, wie weich er ist. Erdogan begann auf die gleiche Weise, weich, zuerst mit dem Vorwurf des Terrorismus. Dann fing er an, sie zu schlagen, indem er behauptete, das Gesetz würde eingehalten, und dann begann er, das Gesetz als einen Stock zu benutzen. Erdogan hat bereits seit vielen Jahren von Putin gelernt. Das geschieht auch hier.

Vor einer Woche wurden auf der Konferenz von GERB, auf der alle dem Stammeshäuptling die Treue geschworen haben, Journalist*innen gezielt geschlagen. Das ist hier bisher noch nicht passiert. Noch nie. Journalist*innen wurden geschlagen, ihre Kameras und Smartphones wurden ihnen weggenommen, und Menschen, die protestierten, wurden ebenfalls geschlagen. Das ist alles.

Es ist an der Zeit, dass Europa begreift, dass die Mafia in Bulgarien eine Regierung hat. Und dies ist nicht nur leeres Gerede. Dies ist die traurige Wahrheit. Die Mafia lässt sich von den Kameras nicht stören. Zum Teufel, die ersten, die gelitten haben, waren die Journalist*innen der bulgarischen Sektion von RFE/RL! Dies ist nicht irgendeine Regionalzeitung vom Lande. Das sind die drei Journalist*innen von RFE/RL in Bulgarien, die seit vielen Jahren bekannt sind. Das war eine gut geplante Aktion. Und die erste Botschaft, die in den Medien erschien, war, dass es nichts mit GERB zu tun hat. Wir haben diese Leute zum Beispiel dafür bezahlt, dass sie zur Konferenz von GERB gehen, sich mit den Symbolen der Partei brandmarken und Journalist*innen schlagen.

Willkommen in Russland oder in der Sowjetunion, wie Sie wollen, Sie haben die Wahl.

AB: Die Macht ist in einer schwierigen Situation. Sie haben bereits mehr als 30 Prozent ihrer eigenen Anhänger verloren. Berlin fällt, wenn wir einen Vergleich brauchen. Genau in diesem Moment sammeln sie die letzten Überreste der 16-Jährigen der Hitlerjugend ein, um die Hauptstadt zu verteidigen. Etwas Ähnliches geschieht mit GERB. Viele Menschen, die diesen Führer und diese Partei unterstützen, wenden mit Unbehagen ihren Kopf ab und gehen. Das kann man sogar mit bloßem Auge beobachten. Alle Verbündeten Borisovs ziehen sich diplomatisch zurück und schauen weg. Dieselben Leute aus Berlin, die auf den Bau von Nord Stream bestehen, schweigen, wenn er South Stream baut, damit mehr russischer Einfluss in die EU eindringen kann.

Das Gerede davon, dass wir Menschen sind, die die pro-europäische Entwicklung Bulgariens stoppen wollen, was auch schon zu hören war, ist völliger Quatsch. Im Gegenteil, die Person, die Putins Interessen vertritt, ist eben Ministerpräsident Borissow. Die Person, die zu Erdogans Regime zurückkehrte und illegal Gulenisten verfolgte, war Boiko Borissow. Und Brüssel hat geschwiegen.

NH: Und sie wurden entführt. Beachten Sie, dass sie auf den Straßen von Sofia entführt worden sind. Entführt ohne ordentliches Verfahren, ohne Gerichtsbeschluss, entgegen dem bulgarischen und europäischen Recht. Sie wurden von uniformierten Milizionären von uns entführt und an der Grenze übergeben. Diese Typen sind verschwunden. Wir wissen nicht, ob sie noch am Leben sind. Wahrscheinlich nicht mehr. Das muss man sich jedes Mal vor Augen halten, wenn Borissow sagt, dass er europäische Werte teilt. Das tut er nicht.

Wie beurteilen Sie das Vorgehen der Polizei zum Schutz der Demonstrierenden und zur Wahrung der inneren Ordnung?

Bild 9: Demonstrant wird von Polizeikräften zu den Säulen des Ministerratsgebäudes geschleift, Sofia

NH: Die Polizei schützt weder die Demonstranten noch die öffentliche Ordnung. Seit dem ersten Tag haben wir ein Mittel geschaffen, um Provokationen zu verhindern, uns von der Polizei fernzuhalten und die Menschen zu schützen, so ineffizient dieser Mechanismus anfangs auch gewesen sein mag. Was die Polizei in der Nacht von Tag 3 tat, war, dass sie in die Menge der friedlich protestierenden Menschen hineinschnitt, buchstäblich schnappte, wen sie konnte, und sie hinter die Säulen des Ministerratsgebäudes zerrte und schlug, usw. Dies ist eine alte Technik, die von jeder Regierung hier gegen Demonstranten angewandt wird.

Glücklicherweise wurde dieser Fall von Sicherheitskameras aufgezeichnet, und zum ersten Mal seit mehr als 10 Jahren, während ich pro bono an Fällen von Polizeigewalt gearbeitet habe, haben wir einige Beweise. Ich habe offiziell um die Aufnahmen gebeten, die von den Kameras des Nationalen Sicherheitsdienstes zu diesem Fall gemacht wurden, und mein Antrag wurde offiziell abgelehnt. Zum Glück ist niemand gestorben, die Leute wurden ins Krankenhaus geschickt. Sie haben ihre Geschichte erzählt. Was geschehen ist, ist auch auf den Smartphone-Aufnahmen zu sehen, sogar in geringerer Qualität. Hier sind also die Provokationen und die Gewalt.

Von diesem Moment an hatten wir kein Problem mehr. Unser Protest ist friedlich, und so sehr ich mir das auch wünschen würde, wenn wir wie Griechenland, Italien, Spanien oder irgendein anderes europäisches Land wären, würde alles am zweiten Tag enden. Leider sind wir gerade erst dabei, wie ich eingangs sagte, Bürger*innen zu erschaffen. Wir bringen ihnen bei, wie und warum. Offensichtlich sind wir damit noch nicht fertig.

AB: Bitte beachten Sie, dass zweitägige Proteste einiger Tausend Libanesen, nicht Zehntausender wie in Sofia, zum Rücktritt der Regierung von Beirut führten. Der Rücktritt wird heute Abend eingereicht, während drei oder vier Minister bereits unabhängig voneinander, ohne die Padishah zu fragen, ihren Rücktritt eingereicht haben. Es sieht so aus, als gäbe es im Libanon mehr Europäer als in Sofia.

Was ist schließlich Ihr Fazit?

NH: Nun, wir möchten ein würdiger Mitgliedsstaat der EU und nicht nur ein Mitglied auf dem Papier sein. Um echte Europäer zu sein, ist es für uns an der Zeit, eine Demokratie von Bürger*innen aufzubauen, die nicht nur frei sind, sondern auch Rechtsstaatlichkeit genießen. Wir müssen möglichst weitgehend gegen die Korruption gewinnen und die Mafia aus dem Weg räumen. Das ist alles, mehr gibt es nicht.

AB: Die Generation, die nach Bulgarien kommt, die Generation, die heranwächst, will so nicht leben, in einem so verdreht regierten Land. Das sind Zehntausende von Menschen, die an angesehenen Universitäten in Westeuropa und den Vereinigten Staaten studiert haben und die bemerkenswert gut wissen, wie Demokratie aussieht. Und es sieht nicht so aus, wie ihre Eltern es in Bulgarien erleben. Wir kämpfen diesen Kampf auch für unsere Kinder. Es sieht so aus, als hätten wir in unserem Leben bisher etwas Unvollendetes hinterlassen, und es ist unbedingt notwendig, es zu Ende zu bringen. Wir sind noch am Leben, wir sind gesund und wir stehen noch und wir werden weitermachen.

Nikolay Hadjigenov ist Jurist, eine bekannte Persönlichkeit und Absolvent der Neuen Bulgarischen Universität. Arman Babikyan ist Journalist, ebenfalls eine bekannte Persönlichkeit und hat an der Universität Sofia studiert.

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Noam‌ ‌Chomsky:‌ ‌Internationalismus‌ ‌oder‌ ‌Untergang‌

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Wir treffen uns zu einem bemerkenswerten Zeitpunkt. Einem Zeitpunkt, der in der Tat einzigartig in der Geschichte der Menschheit ist. Ein Zeitpunkt, der gleichzeitig bedrohlich als auch voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist. Der Progressiven Internationale kommt eine entscheidende Rolle zu, wenn es darum geht, festzulegen, welchen Kurs die Geschichte einschlagen wird.

Wir treffen uns zu einem Zeitpunkt des Zusammentreffens diverser Krisen von außerordentlicher Schwere, in dem das Schicksal des Experiments Menschheit buchstäblich auf dem Spiel steht.

In den kommenden Wochen werden sich die Probleme in den beiden imperialen Großmächten der Neuzeit zuspitzen.

Das immer schwächer werdende Vereinigte Königreich, das öffentlich erklärt hat, dass es internationales Recht zurückweist, steht kurz vor einem klaren Bruch mit Europa und ist auf dem besten Weg, noch deutlicher zu einem US-Satelliten zu werden, als es dies ohnehin schon ist. Aber was für die Zukunft natürlich von größter Bedeutung ist, ist das, was im wahren globalen Hegemon geschieht — geschwächt durch Trumps Amokläufe, aber immer noch mit überwältigender Macht und unvergleichlichen Vorteilen. Sein Schicksal, und gleichsam das Schicksal der Welt, wird womöglich im November entschieden.

Wenig überraschend ist der Rest der Welt daher besorgt, wenn nicht gar entsetzt. Es ist schwierig, einen so nüchternen und renommierten Kommentator wie Martin Wolf von der Londoner Financial Times zu finden. Und selbst er schreibt, dass der Westen vor einer ernsten Krise steht und wenn Trump wiedergewählt wird, “wird dies das Ende sein”. Das sind starke Worte und er bezieht sich nicht einmal auf die großen Krisen, mit denen die Menschheit aktuell konfrontiert ist.

Wolf bezieht sich auf die globale Ordnung, sicher eine wichtige Angelegenheit, wenn auch nicht in der Größenordnung der Krisen, von denen weitaus schwerwiegendere Folgen drohen. Also derjenigen Krisen, die die Zeiger der berühmten “Doomsday Clock” in Richtung Mitternacht treiben — in Richtung Ende.

Wolfs Begriff des “Endes” ist kein neuer Beitrag zum öffentlichen Diskurs. Wir leben seit 75 Jahren in dessen Schatten, seit wir an einem unvergesslichen Augusttag erfuhren, dass die menschliche Intelligenz nun Mittel entwickelt hatte, die bald die Fähigkeit zur tödlichen, absoluten Zerstörung hervorbringen würden. Das war erschütternd genug, aber da war noch mehr: Damals verstand man noch nicht, dass die Menschheit in eine neue geologische Epoche, das Anthropozän, eintritt. Eine Epoche, in der menschliche Aktivitäten die Umwelt auf eine Art und Weise verwüsten, das diese sich nun ebenfalls der endgültigen Zerstörung nähert.

Die Zeiger der “Doomsday Clock” wurden zum ersten Mal eingestellt, kurz nachdem Atombomben in einer Eskalation des unnötigen Abschlachtens eingesetzt wurden. Seitdem haben die Zeiger im Zuge der Entwicklung der jeweiligen globalen Umstände oft oszilliert.

Doch mit jedem Jahr, in dem Trump im Amt war, haben sich die Zeiger weiter in Richtung Mitternacht bewegt. Vor zwei Jahren waren sie so nah wie nie zuvor. Im vergangenen Januar sprachen Beobachter*innen nicht mehr von Minuten und wandten sich stattdessen den Sekunden zu: 100 Sekunden vor Mitternacht. Sie verwiesen auf dieselben Krisen wie zuvor: die wachsende Gefahr eines Atomkrieges, einer Umweltkatastrophe sowie der Verfall der Demokratie.

Letzteres mag auf den ersten Blick unangebracht erscheinen, ist es aber nicht. Die zu beobachtende Rückgang der Demokratie passt in dieses düstere Trio. Denn die einzige Hoffnung, den beiden Bedrohungen des “Endes” zu entkommen, ist eine lebendige Demokratie, in der besorgte und informierte Bürger*innen sich voll und ganz in Deliberation, Politikgestaltung und direkte Aktionen einbringen.

Das war also im vergangenen Januar. Seitdem hat Präsident Trump es geschafft, alle drei Bedrohungen zu verschlimmern. Das ist ja in gewisser Weise auch eine Leistung. Er hat die Zerschlagung des Systems der Rüstungskontrolle — das einen gewissen Schutz gegen die Gefahr eines Atomkriegs bot — fortgesetzt und gleichzeitig, sehr zur Freude der Rüstungsindustrie, die Entwicklung neuer und noch gefährlicherer Waffen gefördert. In seinem engagierten Einsatz für die Zerstörung der lebenserhaltenden Umwelt hat Trump riesige neue Gebiete für Bohrungen erschlossen, darunter auch die letzten großen Naturschutzgebiete. Unterdessen sind seine Schergen dabei, systematisch das Regulierungssystem abzubauen, das die zerstörerischen Auswirkungen der Nutzung fossiler Brennstoffe etwas mildert und die Bevölkerung vor giftigen Chemikalien und Umweltverschmutzung schützt — ein Übel, das angesichts der aktuellen schweren epidemischen Ausbreitung einer Atemwegserkrankung doppelt mörderisch ist.

Des Weiteren hat Trump seine Kampagne zur Schwächung der Demokratie fortgeführt. Laut Gesetz unterliegen die Ernennungen durch den Präsidenten der Bestätigung durch den Senat. Trump vermeidet diese Unannehmlichkeiten, indem er die Positionen einfach unbesetzt lässt und die Ämter lediglich mit “vorübergehend ernannten” Personen besetzt, die seinem Willen nachkommen —und wenn sie dies nicht mit ausreichender Loyalität gegenüber ihrem Herren tun, werden sie entlassen. Er hat die Exekutive von jeglicher unabhängigen Stimme gesäubert. Nur noch Speichellecker bleiben übrig. Der Kongress hatte schon vor langer Zeit Generalinspektoren eingesetzt, um die Leistung der Exekutive zu überwachen. Sie begannen, sich mit dem Sumpf der Korruption zu befassen, den Trump in Washington geschaffen hat. Er kümmerte sich schnell um dieses Problem, indem er sie entließ. Vom republikanisch dominierten Senat, den Trump fest im Griff hat, war kaum ein Mucks zu hören; kaum ein Fünkchen Integrität blieb zurück, so erschrocken sind sie dort über die “Volksbasis”, die Trump mobilisiert hat.

Dieser Angriff auf die Demokratie ist erst der Anfang.

Trumps warnte jüngst, dass er gegebenenfalls sein Amt nicht niederlegen wird, wenn er mit dem Ergebnis der Wahlen im November nicht zufrieden ist. Diese Drohung wird in hohen Kreisen sehr ernst genommen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Zwei angesehene pensionierte hochrangige Militärkommandeure veröffentlichten einen offenen Brief an den Vorsitzenden des Generalstabs, General Milley, in dem sie ihn an seine verfassungsmäßige Verantwortung erinnerten, die Armee zu entsenden, um einen “gesetzlosen Präsidenten”, der sich weigert, nach der Wahlniederlage aus dem Amt zu scheiden, gewaltsam zu entfernen. Außerdem warnten sie vor möglichem Widerstand durch paramilitärische Einheiten, die Trump bereits nach Portland, Oregon, entsandt hatte, um die Bevölkerung dort zu terrorisieren — entgegen des heftigen Widerstands der gewählten Amtsträger*innen dort.

Viele Persönlichkeiten des Establishments halten die Warnungen für realistisch, darunter auch das angesehene Transition Integrity Project, das soeben die Ergebnisse der “Kriegssimulation” veröffentlicht hat, die es zu möglichen Folgen der Wahlen im November durchgeführt hat. Die Projektmitglieder gehören “zu den versiertesten Republikanern, Demokraten, Beamten, Medienexperten, Meinungsforschern und Strategen überhaupt”, erklärt der Ko-Direktor des Projekts. Unter ihnen sind auch prominente Persönlichkeiten beider Parteien. In jedem denkbaren Szenario, abgesehen von einem klaren Trump-Sieg, führten die Simulationen zu so etwas wie einem Bürgerkrieg, womit Trump also beschließen würde, “das amerikanische Experiment” endgültig zu beenden.

Wiederum starke Worte, die so noch nie zuvor von nüchternen Mainstream-Stimmen zu hören waren. Allein die Tatsache, dass solche Gedanken aufkommen, ist schon bedrohlich genug. Und sie sind bei Weitem nicht allein. Angesichts der unvergleichlichen Macht der USA ist weit mehr als das “amerikanische Experiment” in Gefahr.

Nichts dergleichen ist in der oft turbulenten Geschichte der parlamentarischen Demokratie bisher geschehen. Wenn man sich an die vergangenen Jahre erinnert, so hatte Richard Nixon — sicherlich nicht die angenehmste Person in der Geschichte der Präsidentschaft — guten Grund zu der Annahme, dass er die Wahlen von 1960 nur wegen krimineller Manipulation durch Mitarbeiter der Demokraten verloren hatte. Er focht die Ergebnisse dennoch nicht an und stellte das Wohlergehen des Landes über seine persönlichen Ambitionen. Albert Gore tat im Jahr 2000 dasselbe. Heute gilt das nicht mehr.

In reiner Verachtung für das Wohlergehen des Landes neue Wege zu beschreiten, reicht dem Größenwahnsinnigen, der die Welt beherrscht, offenbar nicht mehr aus. Nein, Trump hat darüber hinaus mehrfach angekündigt, dass er die Verfassung missachten und über eine dritte Amtszeit “verhandeln” könnte, wenn er entscheidet, dass er irgendeinen Anspruch darauf hat.

Manche tun das als Verschrobenheit einer Witzfigur ab. Wie die Geschichte zeigt, tun sie das aber auf eigene Gefahr.

Das Überleben der Freiheit wird nicht durch “Pergament-Barrieren” garantiert, wie James Madison warnte. Das will heißen: Worte auf Papier reichen nicht aus. Freiheit gründet auf den Grunderwartungen von Gutwilligkeit und dem allgemeinen Anstand. Diese Grunderwartung ist von Trump zusammen mit seinem Mitverschwörer, dem Senatsmehrheitsführer Mitch McConnell — der das “größte beratende Gremium der Welt”, wie es sich selbst nennt, in einen erbärmlichen Witz verwandelt hat — in Stücke zerfetzt worden. McConnells Senat weigert sich, Gesetzesvorschläge auch nur in Erwägung zu ziehen. Seine Sorge gilt den Reichen und der Justiz, die von oben bis unten mit jungen Anwält*innen der extremen Rechten besetzt ist. Diese sollen sicherstellen, dass die reaktionäre Trump-McConnell-Agenda über die nächste Generation hinweg gesichert wird — was auch immer die Allgemeinheit will; was auch immer die Welt zum Überleben braucht.

Die Unterwürfigkeit der Republikanischen Partei unter Trump und McConnell in ihrem Dienst an den Reichen ist wirklich bemerkenswert, selbst für die neoliberalen Standards und der dort üblichen Verherrlichung der Gier. Eine Veranschaulichung liefern die führenden Spezialisten für Steuerpolitik, die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman. Sie zeigen, dass im Jahr 2018, nach dem Steuerbetrug, der bisher die einzige Errungenschaft von Trump-McConnell war, “zum ersten Mal in den letzten hundert Jahren Milliardäre weniger [an Steuern] bezahlt haben als Stahlarbeiter*innen, Lehrer*innen und Rentner*innen” und damit “ein Jahrhundert der Steuergeschichte” praktisch ausgelöscht wurde. “Im Jahr 2018 wurde zum ersten Mal in der modernen Geschichte der Vereinigten Staaten das Kapital weniger besteuert als die Arbeit” — ein wirklich beeindruckender Sieg in diesem Klassenkampf, der in der aktuell hegemonialen Doktrin “Freiheit” genannt wird.

Die “Doomsday Clock” wurde im vergangenen Januar neu gestellt, also bevor das Ausmaß der Pandemie verstanden wurde. Die Menschheit wird sich früher oder später von der Pandemie erholen, was schreckliche Kosten verursacht. Es sind oftmals unnötige Kosten. Wir sehen das deutlich an den Erfahrungen der Länder, die entschiedene Maßnahmen ergriffen, als China der Welt am 10. Januar die relevanten Informationen über das Virus zur Verfügung stellte: An erster Stelle standen dabei Ost-Südostasien und Ozeanien, andere folgten. Das Schlusslicht bilden einige veritable Katastrophen, namentlich die USA, gefolgt von Brasilien unter Bolsonaro und Indien unter Modi.

Doch trotz des Fehlverhaltens oder der Gleichgültigkeit einiger politischer Anführer wird es letztlich eine Art Erholung von der Pandemie geben. Im Gegensatz dazu werden wir uns jedoch weder vom Abschmelzen der Polkappen noch von der in die Höhe schießende Zahl der Brände in der Arktis, die enorme Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre freisetzen, oder von anderen Schritten auf unserem Marsch in die Klimakatastrophe erholen.

Wenn die renommiertesten Klimawissenschaftler*innen uns mahnen, “jetzt in Panik zu geraten”, sind sie nicht alarmistisch. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Nur wenige tun genug; und was noch schlimmer ist: die Welt ist mit führenden Politiker*innen gestraft, die sich nicht nur weigern, ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, sondern den Wettlauf in die Katastrophe absichtlich beschleunigen. Die Bösartigkeit im Weißen Haus steht bei diesem ungeheuerlichen Verbrechen unangefochten an der Spitze.

Doch es sind nicht nur Regierungen. Dasselbe gilt für die fossile Brennstoffindustrie, die Großbanken, die sie finanzieren, und andere Industrien, die von Handlungen profitieren, die das “Überleben der Menschheit” ernsthaft gefährden, wie es in einem geleakten internen Memo der größten Bank Amerikas heißt.

Die Menschheit wird diese institutionelle Bösartigkeit nicht mehr lange überleben. Die Mittel zur Bewältigung der Krise sind zwar vorhanden; aber nicht mehr lange. Eine Hauptaufgabe der Progressiven Internationale ist es daher dafür zu sorgen, dass wir jetzt alle in Panik geraten — und entsprechend handeln.

Die Krisen, mit denen wir in diesem einzigartigen Moment der Menschheitsgeschichte konfrontiert sind, sind natürlich internationaler Natur. Die Umweltkatastrophe, der Atomkrieg und die Pandemie kennen und akzeptieren keine Grenzen. Und in weniger offensichtlicher Weise gilt das auch für den dritten der Dämonen, die die Erde heimsuchen und den Zeiger der “Doomsday” Clock weiter gen Mitternacht treiben: der Verfall der Demokratie. Der internationale Charakter dieser letzten Seuche wird deutlich, wenn wir ihre Ursprünge untersuchen.

Die Umstände sind unterschiedlich, aber es gibt einige gemeinsame Grundlagen. Ein großer Teil des Übels geht auf den vor 40 Jahren gestarteten neoliberalen Angriff auf die Weltbevölkerung zurück.

Der grundsätzliche Charakter dieses Angriffs wurde in den Ansprachen seiner prominentesten Figuren festgehalten. Präsident Ronald Reagan erklärte in seiner Antrittsrede, dass die Regierung das Problem ist und nicht die Lösung — was bedeutet, dass Entscheidungen von Regierungen, die zumindest teilweise unter öffentlicher Kontrolle stehen, auf private Macht übertragen werden sollten, die der Öffentlichkeit gegenüber keinerlei Rechenschaft ablegen muss und deren einzige Verantwortung die Selbstbereicherung ist, wie der Ökonom Milton Friedman proklamierte. Die andere Figur war Margaret Thatcher, die uns lehrte, dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur einen Markt, auf den die Menschen geworfen werden, um so gut wie möglich zu überleben — und zwar ohne Organisationen, die es ihnen ermöglichen, sich gegen die zerstörerischen Kräfte des Marktes zu wehren.

Zweifellos unbeabsichtigt paraphrasierte Thatcher damit Marx, der schon die autokratischen Herrscher seiner Zeit dafür verachtete, dass sie die Bevölkerung in einen “Sack Kartoffeln” verwandelt hatten: wehrlos gegenüber konzentrierter Macht.

Mit beeindruckender Konsequenz zogen die Regierungen Reagan und Thatcher los, um die Arbeiter*innenbewegung zu zerstören, das Haupthindernis für eine harte Klassenherrschaft der wirtschaftlich Stärksten. Damit übernahmen sie die Leitprinzipien des Neoliberalismus aus seinen Anfängen im Wien der Zwischenkriegszeit, wo der Gründer und Schutzpatron der Bewegung, Ludwig von Mises, seine Freude kaum im Zaum halten konnte, als die protofaschistische Regierung Österreichs lebendige Sozialdemokratie und diese verabscheuungswürdigen Gewerkschaften, die sich in die ach-so-gesunde Wirtschaft einmischten, indem sie die Rechte der Werktätigen verteidigten, gewaltsam zerstörte. Wie von Mises in seinem neoliberalen Klassiker “Liberalismus” von 1927 (fünf Jahre nachdem Mussolini seine brutale Herrschaft begann) erklärte: “Es kann nicht geleugnet werden, dass der Faschismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und dass ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faschismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben” — wenn auch der Faschismus selbst nur vorübergehend sei, versicherte er uns. Die Schwarzhemden werden also gesittet nach Hause gehen, nachdem sie ihr gutes Werk vollbracht haben.

Dieselben Prinzipien beflügelten die begeisterte neoliberale Unterstützung für die abscheuliche Pinochet-Diktatur. Einige Jahre später wurden sie in anderer Form unter der Führung der USA und des Vereinigten Königreichs auf globaler Ebene durchgesetzt.

Die Folgen waren vorhersehbar: Zum einen kam es zu einer starken Konzentration des Reichtums bei gleichzeitiger Stagnation für einen Großteil der Bevölkerung, was sich im politischen Bereich in der Aushöhlung der Demokratie niederschlug. Die Auswirkungen in den Vereinigten Staaten zeigen sehr deutlich, was man erwarten kann, wenn die Herrschaft des “Business” praktisch unangefochten ist. Nach 40 Jahren verfügen nun 0,1 Prozent der Bevölkerung über 20 Prozent des Reichtums, doppelt so viel wie zum Zeitpunkt der Wahl Reagans. Die Vergütung der CEOs ist nach oben geschnellt und hat das Vermögen des gesamten Managements mit in die Höhe getrieben. Die Reallöhne für männliche Arbeitnehmer ohne Aufsichtsfunktion sind hingegen gesunken. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck, mit nahezu keinerlei Reserven. Auch die Finanzinstitutionen, die weitgehend rücksichtslos und räuberisch auftreten, sind in ihrer Größe geradezu explodiert. Es gab wiederholte Zusammenbrüche, die jedes Mal schlimmer wurden. Die Täter wurden per Bailout vom freundlichen Steuerzahlenden gerettet — wobei das wohl noch eine der geringsten der indirekten staatlichen Subventionen ist, die sie erhalten. “Freie Märkte” führten zu einer Monopolisierung mit weniger Wettbewerb und Innovation, da die Starken die Schwachen schluckten. Die neoliberale Globalisierung hat ganze Regionen im Rahmen der Investorenrechtsabkommen, die fälschlicherweise als “Freihandelspakte” bezeichnet werden, deindustrialisiert. Mit der Annahme der neoliberalen Doktrin, dass “Besteuerung Raub ist”, öffnete Reagan die Tür für Steuerparadiese und Briefkastenfirmen — die zuvor verboten und durch wirksame Rechtsdurchsetzung praktisch ausgeschlossen waren. Das führte sofort zu einer riesigen Steuerhinterziehungsindustrie, die den massiven Raubüberfall auf die breite Bevölkerung durch die Reichen und die Konzerne beschleunigte. Und das war keine kleine Veränderung; das Ausmaß wird auf Dutzende Billionen Dollar geschätzt.

So ging es weiter und die neoliberale Doktrin festigte sich.

Als dieser Angriff gerade erst begann, Gestalt anzunehmen, trat der Präsident der Gewerkschaft “United Auto Workers”, Doug Fraser, 1978 aus einem von der Carter-Administration eingerichteten Ausschuss für Arbeiter*innen und Angestellte zurück und drückte seine Betroffenheit darüber aus, dass die Wirtschaftsführer “beschlossen hatten, in diesem Land einen einseitigen Klassenkrieg zu führen — einen Krieg gegen die arbeitende Bevölkerung, die Arbeitslosen, die Armen, die Minderheiten, die ganz Jungen und die ganz Alten und sogar viele aus der Mittelschicht unserer Gesellschaft”. Damit hätten sie “den zerbrechlichen, ungeschriebenen Pakt, der zuvor in einer Zeit des Wachstums und des Fortschritts existierte, zerbrochen und weggeworfen”. Er verwies damit auf die Zeit der Klassenzusammenarbeit im reglementierten Kapitalismus.

Er erkannte etwas verspätet, wie die Welt funktioniert. Und zwar zu spät, um den erbitterten Klassenkampf abzuwehren, der von den Wirtschaftsführern angezettelt wurde, denen von willfährigen Regierungen bald freie Hand gelassen wurde. Die Folgen für einen Großteil der Welt sind wenig überraschend: weit verbreitete Wut, Ressentiments, Verachtung für politische Institutionen, während die vorrangig wirtschaftlichen Institutionen durch wirksame Propaganda eher im Schatten stehen können. All das bietet ein fruchtbares Terrain für Demagogen, die vorgeben können, Dein Retter zu sein, während sie Dir in den Rücken fallen und gleichzeitig die Schuld für die herrschenden Zustände auf Sündenböcke abwälzen: Immigrant*innen, Schwarze, China, wer auch immer am besten zu lang bekannten Vorurteilen passt.

Bild: Panel-Moderatorin Varsha Gandikota-Nellutla im Gespräch mit Noam Chomsky

Doch kommen wir zurück zu den großen Krisen, mit denen wir in diesem historischen Moment konfrontiert sind: Alle sind international; und zwei internationale Gruppierungen formieren sich, um ihnen zu begegnen.

Eine davon wird heute vorgestellt: die Progressive Internationale. Die andere hat bereits unter Trumps Führung des Weißen Hauses Gestalt angenommen: Eine Reaktionäre Internationale, der die reaktionärsten Staaten der Welt angehören.

In der westlichen Hemisphäre umfasst diese Reaktionäre Internationale Bolsonaros Brasilien und einige andere. Im Nahen Osten sind die wichtigsten Mitglieder die Familiendiktaturen am Golf, die ägyptische Diktatur von al-Sisi — vielleicht die härteste in der ohnehin bitteren Geschichte Ägyptens—- und Israel, das vor langer Zeit seine sozialdemokratischen Ursprünge über Bord geworfen hat und weit nach rechts gerückt ist; die vorhersehbaren Auswirkungen der lang anhaltenden und brutalen Besatzung. Die gegenwärtigen Abkommen zwischen Israel und arabischen Diktaturen, die langjährige stillschweigende Beziehungen formalisieren, sind ein bedeutender Schritt zur Festigung dieser Nahost-Basis der Reaktionären Internationale. Den Palästinenser*innen wird ins Gesicht getreten. Es ist das scheinbar angemessene Schicksal derer, denen es an Macht mangelt und die nicht ordnungsgemäß vor den Füßen ihrer natürlichen Herren kriechen.

Ein Partner im Osten ist Indien, wo Premierminister Modi die säkulare Demokratie Indiens zerstört und das Land in einen rassistischen hinduistisch-nationalistischen Staat verwandelt, während er Kaschmir vernichtet. Das europäische Kontingent umfasst die “illiberale Demokratie” Viktor Orbans in Ungarn und ähnliche Elemente in anderen Ländern. Die Reaktionäre Internationale hat auch starke Rückendeckung in den dominierenden globalen Wirtschaftsinstitutionen.

Diese beiden Internationalen machen einen guten Teil der Welt aus, die eine auf der Ebene der Staaten, die andere auf der Ebene der Basisbewegungen. Jede von ihnen ist eine prominente Vertreterin viel breiterer gesellschaftlicher Kräfte, die gegensätzliche und hart umkämpfte Visionen von der zukünftigen Welt haben, die aus der gegenwärtigen Pandemie entstehen soll. Eine Kraft arbeitet unermüdlich daran, eine strengere Version des neoliberalen globalen Systems zu konstruieren, von dem sie sehr profitiert hat, mit einer intensiveren Überwachung und Kontrolle. Die andere freut sich auf eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens, in der Energien und Ressourcen auf die Bedürfnisse der Menschen und nicht auf die Forderungen einer winzigen Minderheit ausgerichtet sind. Es ist eine Art Klassenkampf auf globaler Ebene, mit vielen komplexen Facetten und Wechselwirkungen.

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das Schicksal des Experiments Menschheit vom Ausgang dieses Kampfes abhängt.

Beim obigen Text handelt es sich um den Abdruck der Keynote-Rede von Noam Chomsky auf dem Eröffnungsgipfel der Progressiven Internationale (PI) am 18. September 2020.

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Noam Chomsky ist Mitglied des PI-Rates sowie von DiEM25s Beratendem Ausschuss, und ist als der Begründer der modernen Linguistik anerkannt. Im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere hat er eine Reihe von Auszeichnungen erhalten, darunter den Kyotoer Preis für grundlegende Wissenschaften, die Helmholtz Medaille und die Ben Franklin Medaille für Computer- und Kognitionswissenschaften. Im Herbst 2017 kam er zur University of Arizona, nachdem er zuvor über 60 Jahre am Massachusetts Institute of Technology gearbeitet hatte und dort Institutsprofessor, später emeritierter Institutsprofessor, war.

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Bericht: Solidaritätsaktion für Julian Assange in Bonn

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Julian Assanges einziges Verbrechen bestand darin, die vom US-Militär im Irak und in Afghanistan begangenen Kriegsverbrechen aufzudecken. Für eine Organisation wie DiEM25, die eine tiefgreifende Demokratisierung Europas anstrebt, ist es daher selbstverständlich, gegen das Auslieferungsverfahren, dass derzeit in London gegen Assange läuft, Stellung zu beziehen.

Als Zeichen der Solidarität organisierten unsere Mitglieder am 19. September in Bonn eine Protestaktion, in der sie den Schutz der Pressefreiheit und von Whistleblowern forderten, der eine unabdingbare Voraussetzung für jede funktionierende Demokratie ist. Der Protest fand am Samstagmittag vor dem Beethoven-Denkmal der Stadt statt (siehe Foto). Ausgestattet mit Assange-Masken und Plakaten postierten wir uns inmitten der Shops und Cafés. Wir waren auffällig genug, sodass sich mehrere Menschen an unsere Mitglieder wandten, um sich über diesen Angriff auf die Pressefreiheit zu informieren, was die Reaktion unserer Regierungen war und was sie tun konnten, um zur Bekämpfung dieser Ungerechtigkeit beizutragen.

Eine Passantin, die ihre Unterstützung für die Freilassung von Julian Assange zum Ausdruck brachte, sagte, sie habe sich wegen des Auslieferungsprozesses an lokale Gruppen gewandt, sei aber enttäuscht gewesen, als sie herausfand, dass diese keine Maßnahmen ergriffen hätten. Nach einer kurzen Diskussion mit unseren Mitgliedern beschloss sie, sich uns solidarisch anzuschließen (auf dem Bild mit Hut). Einer der Organisatoren der Veranstaltung, Yunus Arikan, sagte zur Protestaktion:

„Mutige Informant*innen und Enthüllungsjournalist*innen sind wesentliche Bausteine unserer demokratischen Gesellschaften. Julian Assange und Müyesser Yıldız zusammen mit OdaTV in der Türkei sind dabei herausragende Beispiele. Und doch werden sie beide mit dem Tode bedroht, wogegen sich alle Progressiven verbünden und Widerstand leisten sollten. Als Mitglied der transnationalen Bewegung DiEM25 bin ich stolz darauf, zusammen mit meinen Genossinnen und Genossen in Bonn einen Aufruf zur Freiheit von Julian Assange, Müyesser Yıldız und allen mutigen Informant*innen und investigativen Journalist*innen in aller Welt zu unterstützen.“

Obwohl der Prozess gegen Julian Assange ein öffentlichkeitswirksamer Prozess mit einer gewissen Berichterstattung in den traditionellen Medien ist, finden andere Journalist*innen, die unter derselben Verfolgung leiden, kaum Beachtung. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Müyesser Yıldız, einer türkischen Journalistin, die derzeit wegen ihrer investigativen Arbeit inhaftiert ist.

Sollten wir, wie es Noam Chomsky ausdrückte, unsere Regierungen entscheiden lassen, was Journalistinnen und Journalisten veröffentlichen dürfen und was nicht?

Wenn Sie, wie wir, der Meinung sind, dass Journalist*innen geschützt werden sollten, damit sie ihre Arbeit ohne staatliche Zensur ausüben können, laden wir Sie ein, sich mit uns solidarisch zu zeigen, indem Sie mit Ihrer Familie und Ihren Freunden über diese Ungerechtigkeiten sprechen und diese Petition unterschreiben. Vielen Dank!

#FreeAssange

Solidarische Grüße

Bonn1DSC

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