Als Mitglieder des deutschen Bundeskollektives haben wir uns lange gefragt, ob wir zu (außen-)politischen Ereignissen öffentlich Stellung beziehen können und sollten. Können wir davon ausgehen, immer „genug“ Einblick zu haben? Reicht unsere „Expertise“ aus, um Dinge richtig bewerten zu können? Ist es notwendig zu allem etwas zu sagen? Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass es nicht notwendig ist zu allem Stellung zu beziehen. Allerdings gibt es Umstände, die ein Schweigen nicht zulassen.
Am 20. Januar begann unter dem Namen „Operation Olivenzweig“ die türkische Militäroffensive auf Afrin, eine der drei Verwaltungseinheiten in der de facto autonomen Region Rojava im Norden Syriens. Dieser Angriff lässt die Gewalt in der Region erneut eskalieren und kann nur innerhalb der Tradition eines jahrzehntelangen Konflikts zwischen der Türkei und der kurdischen Nationalbewegung begriffen werden.
Bereits Ende der 70er Jahre gründete sich, angeführt vom ideologischen Kopf Abdullah Öcalan, die stalinistisch ausgerichtete, kurdische Arbeiterpartei PKK als Reaktion auf die Diskriminierung von Kurdinnen und Kurden in der Türkei. Ihr Ziel war es, in klassisch marxistisch-leninistischer Diktion den Imperialismus durch einen gemeinsamen nationalen, kurdischen „Befreiungskampf“ zu besiegen und die halbfeudalen und patriarchalischen Verhältnisse in der Region zu überwinden. In der Folge lieferten sich PKK und der türkische Staat einen jahrelangen, bürgerkriegsartigen Konflikt. Beide Seiten schreckten nicht vor Menschenrechtsverletzungen und Morden zurück, auch der Einsatz von Kindersoldaten ist belegt.
Ideologische Neuausrichtung der kurdischen Bewegungen
Sowohl die PKK in der Türkei, als auch die ihr nahestehende PYD in Nordsyrien machten seit den 90er Jahren einen Paradigmenwechsel durch. So wandte man sich zunehmend von der Idee eines vereinten, befreiten kurdischen Nationalstaates ab. Man hatte erkannt, dass es eben der monopolistische, patriarchal organisierte, kapitalistische Nationalstaat war, der den Menschen in der Region an der „Befreiung“ hinderte. Öcalans Schriften wirkten währenddessen weiter, aus dem Gefängnis heraus.
Öcalan taufte das neue Prinzip „demokratischen Konföderalismus“. Dabei handelt es sich um ein vom libertären Sozialisten Murray Bookchin inspiriertes Konzept. Dieses zielt darauf ab, eine nicht-patriarchale, demokratisch-ökologische Zivilgesellschaft im Mittleren und Nahen Osten zu schaffen, die den Staat letztlich überwindet.
Im Zuge des syrischen Bürgerkrieges waren es die YPG, der militärische Arm der PYD, sowie der weibliche Ableger YPJ (militärische Brigaden, die ausschließlich aus Frauen bestehen), welche den größten Anteil an Bodentruppen im gemeinsamen Kampf gegen das Vordringen des IS und dessen Zurückdrängung stellten. Auch war die YPG maßgeblich an der Schaffung des Fluchtkorridors im Sindschar-Gebirge beteiligt. Dadurch konnten ca. 20000 Jesiden vor dem geplanten Genozid des IS an ihrer Religionsgemeinschaft fliehen.
Rojava – ein Versuch den “Nationalstaat” hinter sich zu lassen?
Im Angesicht eines grausamen Bürgerkrieges, der bis heute tausenden Menschen das Leben kostete und ganze Städte auslöschte, etablierte sich in Nordsyrien die „Demokratische Föderation Rojava“, welche am 17. März 2016 von kurdischen, assyrischen, arabischen und turkmenischen Delegierten in einer Versammlung ausgerufen wurde. Rojava ist in Anlehnung an den demokratischen Konföderalismus in einem Rätesystem organisiert. Religionsfreiheit, Gleichberechtigung der Frau und das Verbot der Todesstrafe bilden einige der Grundprinzipien, welche im Gesellschaftsvertrag von Rojava festgeschrieben sind.
Das nichtstaatliche Organisationsprinzip Rojavas überfordert die Staatengemeinde und seine Existenz „provoziert“ die türkische Regierung. Zum einen versteht die türkische Regierung die Existenz kurdischer Selbstverwaltung als potentielle Motivation der kurdischen Minderheit in der Türkei sich auch zu erheben. Zum anderen widersprechen der säkulare Anspruch Rojavas sowie das emanzipatorische Gesellschaftsverständnis dem konservativ-islamischen Verständnis der AKP, welche in den letzten Jahren eine Re-Islamisierungsstrategie in der Türkei vorantreibt. Die politische Ideologie der Regierung Erdogans und damit auch seine außenpolitische Ausrichtung lassen sich als „neo-osmanisch“ begreifen. Das meint den Anspruch der Türkei, die Position der Regionalmacht im Raum des ehemaligen osmanischen Reichs einzunehmen, sowohl politisch, ökonomisch als auch kulturell.
In dieser türkischen Matrix gilt Rojava als „ein Fehler“, den es zu beseitigen gilt. Dass diese Politik der Türkei überhaupt ermöglicht wird, liegt an den geopolitischen Großmächten, also an. der NATO einerseits und Russland andererseits.
Ernsthafte Verbündete oder Kanonenfutter der “Global Player”?
Die Zeiten, in der die YPG und YPJ-Kräfte gebraucht wurden, um den islamischen Staat als gemeinsamen Feind zurück zu schlagen, sind vorbei. Die USA, zuvor noch Verbündete der YPG, lassen sie nun in „Respekt vor dem NATO-Partner Türkei“ fallen. Russland sieht es ebenso nicht als notwendig an, wegen einer kleinen, selbstverwalteten Landzunge einen diplomatischen Konflikt mit der Regionalmacht Türkei zu riskieren. Daher hat es vorsorglich den Luftraum über Rojava für türkische Streitkräfte geöffnet. Deutschland und andere westliche Nationen hingegen schweigen, während türkische Einheiten mit deutschen Leopard-Panzern über die Grenze rollen.
Flankiert wird dies durch eine türkische Regierungspropaganda, die jegliche Opposition unterdrückt (sofern sie noch nicht in den Gefängnissen sitzt). Auf diese Weise wird jeder, der das türkische Vorgehen als Angriffskrieg bezeichnet, als „Terroristenunterstützer“ denunziert und verfolgt. Dutzende Menschen wurden bereits verhaftet. Demonstrationen und Proteste sind verboten.
Angesichts dieser Lage ist unsere Position als Bundeskollektiv klar. Wir fordern die deutsche Bundesregierung zum sofortigen Stopp der Waffen – und Rüstungsexporte an die Türkei auf. Wir fordern darüber hinaus, dass Deutschland als NATO-Mitglied die Türkei dazu veranlasst, ihre militärischen Kräfte zurückzuziehen, diesen Angriffskrieg zu beenden und die völkerrechtlichen Grenzen zu akzeptieren.
Unsere Solidarität gilt den Menschen in Rojava, welche sich für ein selbstbestimmtes Leben in einer freien und emanzipatorischen Gesellschaft einsetzen. Unserer Meinung nach muss es Raum für ein solches Projekt geben, kann es uns doch möglicherweise Wege aufzeigen, ein gutes Leben für Alle jenseits von Staat und Nationalismus zu ermöglichen. Außerdem gilt unsere Solidarität der türkischen Opposition, welche sich dem neo-osmanischen Expansionismus Erdogans in den Weg stellt und für eine offene und sozial-gerechte Gesellschaft kämpft.
Wir sind allerdings auch der Ansicht, dass Solidarität nicht einfach durch ein abstraktes Bekenntnis oder ein geschriebenes Statement „entsteht“, sondern gelebt werden muss. Daher haben wir uns dazu entschlossen, Meral Cicek, eine kurdische Aktivistin, zum 2 DiEM25-Geburtstag in Berlin am 9.-11. Februar einzuladen. Damit wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass auch die Perspektive aus Rojava endlich eine Stimme in der öffentlichen Debatte erhält.
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