Rede auf der Fête de l’Humanité 2016
(Übersetzt von Andrea Hirschmann)
Letztes Jahr kam ich mit einer Nachricht von Griechenland zum Fest [Fête de l’Humanité]. Der Athener Frühling war gerade von der Troika niedergeschlagen worden, weil Europas Establishment plante, die Troika nach Paris zu bringen.
Und die Troika kam nach Paris. Das Arbeitsrecht wurde per präsidentialer Verordnung geändert. Bürgerrechte wurden eingeschränkt. Und die großartigen Menschen von Paris antworteten mit Nuit Debout.
Ja, es ist wahr, Griechenland war das Versuchslabor der Menschenverachtung. Und Frankreich muss das Schlachtfeld sein, auf dem die Menschenverachtung besiegt wird.
Warum sind wir hier? Wir sind hier, weil wir Humanisten sind, in einem Zeitalter der Menschenverachtung.
Wir sind hier, weil die Menschen in Frankreich ersticken. Die Griechen ersticken. Die Österreicher, die Deutschen, die Spanier, die Portugiesen ersticken. Ganz Europa erstickt.
Wir sind hier, weil unsere Bevölkerung erstickt, in einem Europa, das gerade zerfällt.
Und unsere Bevölkerung wird weiter ersticken, solange Europa zerfällt. Und Europa wird weiter zerfallen, solange unsere Bevölkerung erstickt.
So sind wir nun hier, um das Ersticken unserer Bevölkerung zu beenden, um den Zerfall Europas aufzuhalten. Einen Zerfall, der die Bestie der Großen Deflation unserer Zeit nährt, welche – wie in den 1930ern – Fremdenhass, Rassismus und Nationalismus hervorbringt.
Wir sind hier, um den Preis, den die Menschen aufgrund des idiotischen Umgangs mit der unvermeidlichen Krise dieses Europas zahlen müssen, möglichst gering zu halten. Nur das bringt uns hier zusammen: eine Dringlichkeit. Eine Pflicht: den Preis menschlichen Leidens möglichst gering zu halten. Unsere Aufgabe ist einfach: es ist unsere Pflicht, alles nur Erdenkliche zu tun, um die Sorgenfalten in den Gesichtern der Menschen zu glätten.
Geben wir uns keinen Illusionen hin. Vor uns stehen entschlossene, gutorganisierte Gegner, welche das Wohl der Menschen nicht an erste Stelle setzen. Die nur eines wollen: Business as usual, und eine Welt, die ihnen erlaubt, unendlich viel Geld zu machen, indem sie den Rest der Menschheit als Werkzeug dafür missbrauchen.
Mit rationalen Argumenten sind sie nicht zu überzeugen. Sie pfeifen auf ein ethisches Vorbild. Sie verachten Demokratie. Sie wissen, dass sie eine große Mehrheit der Menschen einschüchtern können. Doch in Ihrer Überheblichkeit zerstören sie mit ihrem Business as usual wie ein dummer Virus den Organismus, von dem sie abhängig sind.
Ihr Business as usual ist verantwortlich für Europas Zerfall.
Ihr Business as usual ist verantwortlich für den langsamen ökologischen Tod des Planeten Erde.
Ihr Business as usual ist verantwortlich für die Furcht und den Hass, der wieder, wie in den 1930ern, zur dominierenden politischen Kraft auf diesem Planeten wird.
Ja, deswegen sind wir hier. DiEM25, die Bewegung, die mit der Zerschlagung des Athener Frühlings ihren Anfang nahm und sich nun in ganz Europa ausbreitet, ist hier. Wir sind hier mit der Entschlossenheit, jeden Preis zu zahlen, alles auf uns zu nehmen, jedem Feind der Hoffnungen auf Mitmenschlichkeit die Stirn zu bieten. Wir sind hier, um die französischen Ideale von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit zu verteidigen, und sie mit Hoffnung, Vernunft, Vielfalt, Toleranz und natürlich Demokratie zu ergänzen.
Doch hüten wir uns vor Selbstgefälligkeit. Wir dürfen nicht selbstverliebt werden. Wir sind nicht auch nur in der Nähe eines Erfolgs. Wir sind mitten in der schlimmsten Kapitalismuskrise seit 1929. Und doch: die progressiven Kräfte, die Linke, echte Liberale, Grüne – überall verlieren sie.
Die Niederlage unseres Athener Frühlings war von globaler Bedeutung. Podemos hat in Spanien den Schwung verloren. Überall erhebt sich die menschenfeindliche Rechte. Auf dem Kontinent werden neue Elektrozäune gezogen. Das Licht der Hoffnung flackert im kalten Wind des Nationalismus. Wenn kein Wunder geschieht, wird Frankreich 2017 einen noch reaktionäreren Präsidenten haben als den traurigen Herrn Hollande.
Warum ist das so? Warum wandten sich die Europäer in den Zeiten der Krise nicht den Progressiven zu? Meine Antwort: es ist UNSER Fehler. Der Fehler der Progressiven, der Linken, von Demokraten, Liberalen und Grünen gleichermaßen.
Denkt darüber nach: während der Kapitalismus sich in Krämpfen windet, wird die Rechte leidenschaftlich, zittert in einer Anti-Establishment-Inbrunst, welche bis vor Kurzem noch ein Ressort der Linken war. Trump wendet sich gegen TTIP, Britische Tories und Ungarns Orban gegen die antidemokratischen Machenschaften der EU, Le Pen verteidigt eine vom angeschlagenen Euro und der Linken im Stich gelassene Arbeiterklasse.
Die Politik erlebt gerade eine Umbildung, wie sie die Welt seit den 1930ern nicht mehr gesehen hat. Eine Große Deflation hat beide Seiten des Atlantiks im Griff, lässt seit acht Jahrzehnten schlafende politische Kräfte wieder aufleben.
Leidenschaft kehrt ein in die Politik – aber nicht so, wie wir gehofft hatten. Die Leidenschaft treibt nun Menschenfeindlichkeit an. Und es ist unsere Aufgabe, das aufzuhalten. Unsere Aufgabe, die Leidenschaft für Menschlichkeit einzusetzen.
Um das tun zu können, müssen wir erst einmal verstehen, was geschieht. Sicher, links gegen rechts, Arbeitskraft gegen Kapital spielt immer eine Rolle. ABER: Europa spaltet sich gerade in zwei Blöcke, die nichts mit Links oder Rechts zu tun haben.
Ein Block repräsentiert die alte Troika von Globalisierung, Finanzialisierung und Neoliberalismus. Noch ist sie an der Macht, wenn auch ihre Macht dahinschwindet – wie François Hollande, Angela Merkel und David Cameron bestätigen können. Auch die griechische Regierung nach der Kapitulation, die nun eben dieser Troika dient, kann das bestätigen. Die Europäische Kommission. Zwar sind sie im Amt, doch verlieren sie ihre Macht und Legitimation.
Der andere Block, der sich gegen Globalisierung, Finanzialisierung und Neoliberalismus stellt, ist das, was ich Nationalistische Internationale nenne.
Britische Brexiter, die Regierungen Polens und Ungarns, die Alternative für Deutschland, der verabscheuungswürdige Kryptofaschist, der womöglich Österreichs nächster Präsident wird, und natürlich Marine Le Pen – im Schlepptau der Großen Deflation baut sich eine Mauer aus fremdenfeindlichem Nationalismus vor der Troika auf.
Das Problem mit dem Aufeinanderprallen der Globalen Troika und der Nationalistischen Internationalen liegt darin, dass es sowohl real als auch irreführend ist. Die Brexit-Entscheidung beweist dessen Realität. Und doch ist es irreführend, weil die Globale Troika und die Nationalistische Internationale in Wirklichkeit nicht Feinde, sondern Komplizen sind.
Globale Troika wie auch Nationalistische Internationale sind nichts anderes als Facetten der Großen Deflation – der tiefen Krise des europäischen Kapitalismus.
Um diese Unheilige Allianz zu brechen, brauchen wir einen Progressiven Internationalismus. Das ist es, was DiEM25 in Europa aufbaut: diese Progressive Internationale.
DiEM25 kommt mit einer soliden Agenda für einen progressiven Wandel.
DiEM25 kommt, um sich dem Business as usual zu widersetzen – wie wir es in Athen getan haben, wie wir es in Nuit Debout tun – in jedem Dorf und in jeder Stadt in Europa.
DiEM25 kommt, um sich dem Ruf der Sozialdemokraten nach “mehr Europa” zu widersetzen. Unter dem derzeitigen EU-Regime samt Institutionen wird “mehr Europa” in eine Legalisierung von Europas Austeritätsunion münden.
Wonach Hollande und seine Anhänger rufen, ist im Grunde eine Beschleunigung des Schäuble-Plans in Richtung einer gefälschten Föderation, welche Europa dauerhaft in einen eisernen Käfig verwandeln wird.
DiEM25 kommt AUCH, um sich denjenigen Linken entgegenzustellen, die uns das Ziel der Nationalistischen Internationalen, nämlich die Europäische Union abzubauen, überstülpen wollen.
DiEM25 bietet jenen, die fälschlicherweise behaupten, es gäbe in der Europäischen Union keine Alternative – das Euro-TINA-Dogma (Anm.: TINA = There Is No Alternative) – das einzig wirksame Gegenmittel an:
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auf nationaler Ebene sollte eine progressive französische, griechische, spanische und italienische Regierung den Menschen einen umfassenden Plan A vorschlagen – einen Eindruck davon, wie unter dem gegenwärtigen System wieder Hoffnung ins Land kommen kann.
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Zugleich muss eine progressive nationale Regierung einen Abwehrplan parat haben für den Fall, dass EZB und Troika als Reaktion auf den Plan A der progressiven Regierung mit Bankenschließungen, Liquiditätsengpässen u.s.w. drohen.
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Und schließlich muss eine progressive Regierung auch einen Plan bereit haben für den Fall, wenn die “Mitte” einen Ausschluss aus der Eurozone einfädelt.
Dies waren die drei Pläne, welche ich als Griechenlands Finanzminister hatte – mein Team sprach von ihnen als Plan A, B & X. Jetzt brauchen wir überall Regierungen, die sich an sie halten wollen.
Das schlägt DiEM25 auf nationaler Ebene vor.
Was die gesamteuropäische Ebene anbelangt, ist DiEM25 der Überzeugung, dass wir den Europäern einen europäischen Plan A für Europa anbieten müssen. Eine Progressive Agenda für Europa. Einen europäischen New Deal – eine Vorstellung davon, wie unter den gegenwärtig gültigen Verträgen wieder Hoffnung, Entwicklung und Demokratie einkehren können.
Gleichzeitig bereitet DiEM25 einen Plan vor, um einen Zerfall der Eurozone und der EU so gut und reibungslos wie nur möglich zu bewältigen.
Zusammenfassend besteht DiEM25 darauf, dass
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wir überall einen Plan A einleiten, auf nationaler und auf gesamteuropäischer Ebene: einen Plan A, oder europäischen New Deal
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wir einen Abwehrplan vorbereiten, um den Drohungen der Troika entgegenzutreten
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und wir einen gesamteuropäischen Plan vorbereiten zum Umgang mit Europas Zerfall, der sicher eintreten wird, wenn es dem Deep Establishment gelingt, unseren Plan zurückzuweisen.
Freundinnen und Freunde, Genossinnen und Genossen,
die EU wird demokratisiert. Oder sie wird zerfallen!
Wir, die Mitglieder von Democracy in Europe Movement, werden sie mit Vernunft überhäufen – mit konstruktiven Vorschlägen – mit Wirtschaftsplänen, welche maßvoll, praktisch und jederzeit umsetzbar sind.
Wir werden sie überschütten mit Maßhalten.
Doch werden wir ihnen auch in die Augen blicken, und wenn sie uns bedrohen, so wie die Troika mich 2015 bedroht hat, sind wir bereit, ihnen zu sagen:
¡No pasaran! – Sie werden nicht durchkommen!
Nur weiter so!
Wir werden nicht weichen!
Europas Zukunft hängt von unserem Widerstand gegen Euren inkompetenten Autoritarismus ab.
Wenn sie uns sagen “Ihr müsst Business as usual” akzeptieren oder die Europäische Union, den Euro, verlassen”, werden wir antworten: “Wir gehen nicht!” “Ihr geht!”
Auf ihr Business as usual werden wir mit KONSTRUKTIVEM UNGEHORSAM reagieren. MIT EINER KOMBINATION AUS BESCHEIDENEN VORSCHLÄGEN UND UNGEHORSAM. Das ist es, was Humanismus uns heute abverlangt.
Ich frage unsere Genossinnen und Genossen, welche uns drängen, den EXIT als Ziel zu übernehmen:
glaubt Ihr wirklich, dass eine Linke in diesen Zeiten eine Schlacht um die Vormachtstellung gegen die fremdenfeindliche Rechte gewinnen kann, indem sie den Ruf der Rechten nach neuen Mauern und dem Ende von Bewegungsfreiheit unterstützt?
Genug davon. Jetzt ist es an der Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
DiEM25 arbeitet schon daran, eine Progressive Agenda für Europa zusammenzustellen, einen Green New Deal für Europa.
Ein Komitee von bestqualifizierten Ökonomen hat sich an die Arbeit gemacht. Nächste Woche werden wir auf unserer Website unser Werk zu Euro, Investitionen, Banken, Armutsbekämpfung und Schuldenabwicklung vorstellen. Und IHR seid eingeladen, daran teilzuhaben.
Bis Februar 2017 wird unsere Abhandlung zum New Green Deal für Europa als Entwurf zur Verfügung stehen. Dann werden wir alle wieder in der letzten Februarwoche in Paris zusammenkommen.
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Um Frankreichs Bevölkerung unsere pragmatischen, radikalen und umfassenden wirtschaftspolitischen Vorschläge vorzustellen.
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Um den Präsidentschaftskandidaten unseren Green New Deal für Europa anzutragen.
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Und sie zu fragen: wirst Du ihn umsetzen? Und wenn nicht, warum?
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So wird DiEM25 in jedem europäischen Land wirken.
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So wird DiEM25 auf eine Progressive Internationale hinarbeiten. Zu einer gesamteuropäischen Allianz von Demokraten, Sozialisten, Liberalen, Grünen, Feministen, Utopisten, die verstehen, dass die einzige Alternative in einer Dystopie besteht.
Freundinnen und Freunde, Genossinnen und Genossen:
viel zu lange schon haben wir, Frankreich, Griechenland, Deutschland, zugelassen, dass ganz Europa von “Zufall und Zwang” regiert wird statt von “Besinnung und Wahl”.
Viel zu lange haben wir zugelassen, dass einstige Aufgeklärtheit in Dunkelheit verblasst.
Zeit für Europas Humanisten, Europa zurückzufordern.
Carpe DiEM25
Paris, 10. September 2016
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