Ein Kommentar von DSC Berlin Mitglied Holger Scheidt
Als ein 1979 in Westdeutschland – in Bayern – geborenes, und auf dem Land aufgewachsenes Akademikerkind rheinischer Eltern aus bürgerlichen Stadtfamilien, bin ich sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene mit einer gewissen Erfahrung von kultureller Anpassung aufgewachsen und sozialisiert. Auf der individuellen Ebene ergab sich die Erfahrung der Anpassung zum einen aus den kulturellen Unterschieden des tief in meinem Elternhaus verwurzelten Rheinlandes und meiner damaligen, unmittelbaren Umgebung, und zum anderen aus der Tatsache, dass wir zwar auf dem Land lebten, aber eigentlich aus der Kölner Stadtkultur stammten. Auf der gesellschaftlichen Ebene gehört die Erfahrung der kulturellen Anpassung aus meiner Sicht zunächst zum Erbe eines jeden Nachkriegsdeutschen. Demokratie und soziale Marktwirtschaft mussten nicht nur entwickelt, sondern auch erst mal erlernt werden. Ein völlig neues, sich von allem vorhergegangenen Autoritären und Militaristischen abgrenzendes Bedeutungssystem wurde für Deutschland aus einem gewissen Vakuum heraus geschaffen. Diese Erfahrung setzte sich für meine Generation mit der deutschen Wiedervereinigung und des Auseinanderfallens des Ostblocks fort. Sicher in besonderer Weise erlebt von den Menschen im Osten, aber das vermeintliche „Ende der Geschichte“ veränderte zweifellos auch das politische und kulturelle Bedeutungssystem des Westens.
Ich möchte diese beschriebene Erfahrung von kultureller Anpassung auf den verschiedenen Ebenen, als meine soziale Grunderfahrung bezeichnen, und ich bin aufgrund dieser Grunderfahrung darauf geprägt den Begriff der Demokratie, die Idee von Freiheit und den Wunsch nach Frieden durch Vereinigung, oder besser nach der Integration von Ländern, Gesellschaften und sozialen Gruppen, zu lieben. Und nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass ich all diese drei Dinge in Gefahr sehe, dass Autoritarismus, Unfreiheit, und exklusives Denken und Verhalten wieder an Macht gewinnen, bin ich im Frühjahr 2019, kurz vor der Europawahl, ein Mitglied von DiEM25 geworden.
Ich habe seit meinen frühen 20ern eine sehr innige Beziehung zu Barcelona, und so zu Katalonien und Spanien. Ich habe dort studiert und hatte die Gelegenheit Einblicke in eine Gesellschaft zu gewinnen, die – genau wie meine – eine faschistische Erfahrung hat, und sich für die Vision eines vereinten Europas begeisterte. Beide Gesellschaften schienen in dieser Vision auch eine Befreiung von den Lasten der Vergangenheit zu sehen. Allerdings, seitdem in Katalonien der Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit eine unübersehbare Relevanz erreicht hat, stelle ich fest, dass es, im Bezug auf Prägung, im Bezug auf Grunderfahrung, zwischen mir und meinen geliebten, katalanischen Freunden doch durchaus Unterschiede geben muss.
Separation, Teilung, expliziter, kultureller Nationalismus sind Vorstellungen, die mich intuitiv abschrecken. In meinen Augen, in erster Linie, eine auf meine Grunderfahrung fußende, emotionale Reaktion. Die faschistische Erfahrung meiner Gesellschaft mündete in eine Intervention von außen, eine sichtbare Kapitulation, und einen großen Gerichtsprozess mit Verurteilungen. Die spanische faschistische Erfahrung allerdings, ist zum einen wesentlich jünger als die deutsche, und zum anderen gibt es eine gewissermaßen intrinsische Verbindungslinie zwischen dem faschistischen und dem heutigen Staat. Der Diktator hatte sechs Jahre vor seinem Tod König Juan Carlos I zu seinem Nachfolger ernannt, welcher dann, nach dem Tod Francos, ab 1975 den Prozess hin zur heutigen Staatsform, nämlich der konstitutionellen Monarchie, initiierte. Spanien ist heute eine Demokratie, aber die Geschichte dieser sorgt, verglichen mit Deutschland, für einen ganz wesentlichen Unterschied im Umgang mit der faschistischen Erfahrung, und damit auch für einen Unterschied in Bezug auf die soziale Grunderfahrung meiner katalanischen Freunde.
Seitdem ich einen Einblick in die katalanische Gesellschaft habe, gab es dort eine Tendenz zur kulturellen Abgrenzung, eine gewisse Ablehnung der Monarchie und des mutmaßlich autoritären Gebarens der Zentralregierung, sowie, selbstverständlich, eine Unzufriedenheit mit dem Status der finanziellen Umverteilungsmechanismen innerhalb Spaniens. Die Ernsthaftigkeit und die politische Relevanz der Unabhängigkeitsbewegung ist aber doch relativ neu. Da bleibt die Frage, wie kommt es?
Steigende Immobilienpreise und Preise im Allgemeinen, eine zunehmende Problematisierung von Migration und der stetig ansteigenden Präsenz von Touristen, selbst Globalisierungskritik mögen mittlerweile eine Rolle spielen, und sicher keine geringe. Aber wenn ich mich frage, was seit meiner Studienzeit in Barcelona – zu Beginn des Jahrtausends – passiert ist, was einen so großen Unterschied machen kann, dass aufgeklärte Menschen mit modernen Leben bereit sind, für diesen Wunsch nach politischer Unabhängigkeit, in Kauf zu nehmen, ihrem Staat, ihrer Wirtschaft und ihrer Gesellschaft im Zweifel Schaden zuzufügen, dann komme ich doch ziemlich schnell zu folgender Antwort: die Eurokrise und der Umgang mit dieser?
Sowohl der spanische Zentralstaat, als auch Katalonien wurden hart getroffen in der globalen Finanzkrise 2008. Beide waren plötzlich hoch verschuldet und in den ersten Folgejahren hatte sich die katalanische Gesellschaft in erster Linie darauf konzentriert, neben der spanischen, ihre eigene etablierte politische Klasse anzuklagen. Im Juni 2010, kurz nach dem Beginn der Eurokrise in Griechenland und der Schaffung des EFSF und mit der Prophezeiung der sog. Dominotheorie in Sichtweite geschah es dann: Das spanische Verfassungsgericht erklärte mit knapper Entscheidung das bereits 2006 durch Parlamentsbeschlüsse in Madrid und Barcelona, sowie durch ein Referendum in Katalonien, angenommene Autonomiestatut für in Teilen verfassungswidrig. 2011 war Spanien gezwungen den ESM in Anspruch zu nehmen und damit der Troika zu antworten. Nur eine der beiden Seiten, nämlich der Zentralstaat, hat unmittelbaren Zugang zu den finanziell und fiskalpolitisch ausschlaggebenden Gremien in Brüssel, was aus meiner Sicht das Machtverhältnis zwischen den beiden noch zusätzlich zugunsten Madrids verschoben hat. In den Jahren zwischen 2010 und 2014 müssen die Katalanen also eine ganz besondere Demütigung erlebt haben und seit spätestens 2014 liegt der Fokus des katalanischen Diskurses geradezu ausschließlich auf der nationalen Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien.
Natürlich ist dies eine stark reduzierte Betrachtung, zumal sie rein innerspanische Konflikte und Entwicklungen weitgehend außer Acht lässt. Aber, in Anerkenntnis der, im Vergleich zur deutschen, unterschiedlichen faschistischen Erfahrung Kataloniens und Spaniens, hat sie mir geholfen zu verstehen, warum plötzlich katalanische Akademikerkinder, langjährige Freunde, deren soziale Grunderfahrung in großen Teilen mit meiner sozialen Grunderfahrung vergleichbar ist, anfangen mitten im vereinten Europa das Selbstbestimmungsrecht der Völker einzufordern und allen Ernstes nach nationaler Unabhängigkeit zu streben.
Obwohl es mir also nicht unbedingt leicht fällt meine katalanischen Freunde in dieser Sache zu begreifen, erkenne ich, und bin auch beeindruckt, dass die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, der katalanische Nationalismus – wie ich in vielen Gesprächen feststellen konnte – antiautoritär, demokratisch und pro-europäisch ist. Zweifelsohne gibt es in der katalanischen Gesellschaft auch Xenophobie und Rassismus, bzw. jegliche Facette ausgrenzenden Denkens, aber die breite Ablehnung der Monarchie und des vermeintlich nach wie vor autoritär agierenden Zentralstaates, als quasi wahrgenommener Abkömmling der Diktatur auf der einen Seite, gepaart mit einer gewissen kosmopolitischen Kultur des Fortschrittsdenkens auf der anderen, sorgt beobachtbar dafür, dass die Unabhängigkeitsbewegung sich dieser, ja in Teilen geradezu jeder Gesellschaft vorhandenen Einstellungen, bis jetzt nicht bedient. Es wird dort viel ausprobiert und gedacht, und man scheint keine Angst vor der Veränderung zu haben. Das ist positiv, und ich als zugegebenermaßen veränderungsscheues, harmoniebedürftiges, west- und gesamtdeutsches DiEM25-Mitglied, kann so wieder ein bisschen besser schlafen, in der Hoffnung, dass es in Europa das Potential gibt sich gegenseitig zu verstehen.
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