Ein Beitrag von DiEM25-Mitglied Timm Kühn
Der Demokratie geht es nicht gut. Das zeigt sich nicht nur daran, dass Teile der europäischen Bevölkerung offenbar bereit sind, ihre Stimme rechtsnationalen und anti-demokratischen Kräften zu geben. Denn da sich der Anerkennungsgrad einer Demokratie aus der Glaubwürdigkeit ableitet, welches den demokratischen Verfahren allgemein geschenkt wird, lässt sich die Gesundheit einer repräsentativen Demokratie noch viel genauer bestimmen: Durch die Frage, inwieweit die Bürger*innen ihren Repräsentant*innen glauben, dass diese auch wirklich ihre und die gesamtgesellschaftlichen Interessen vertreten. Es muss deshalb erschüttern, dass laut Eurobarometer nur 34,1% der Europäer*innen den nationalen Parlamenten vertrauen – den politischen Parteien sogar nur 19,2% (1).
Aus einer links-progressiven Perspektive können diese Zahlen aber nur erschüttern, nicht verwundern. Denn was sich hier widerspiegelt, ist nichts als die alte Einsicht, dass wir nicht einfach in einem demokratischen, sondern in einem demokratisch-kapitalistischen System leben. Dabei besteht zwischen Demokratie und Kapitalismus stets ein Spannungsverhältnis. Denn anders als in der abstrakten Vorstellung der Demokratietheorie, welche davon ausgeht, dass Volksvertreter*innen ausschließlich mit den Interessen des Volkes beauftragt sind, erscheint den Repräsentant*innen im demokratischen Kapitalismus eine zweite Referenzgruppe; die Agenten des Kapitals betreten die Bühne. Diese können sich aber nicht mit dem Wählen wirtschaftsliberaler Parteien zufrieden geben, da sie sich, zumindest prinzipiell, stets mit der zahlenmäßigen Übermacht der Lohnabhängigen konfrontiert sehen, deren Interessen den eigenen häufig diametral gegenüber stehen. Doch die Eigner*innen und Verwalter*innen des Kapitals verfügen über den Trumpf, sich in die wirtschaftliche Sphäre zurückziehen zu können. So sind sie in der Lage, durch das Zurückhalten von Investitionen (“Liquiditätspräferenz”) oder Kapitalflucht, Wirtschaftskrisen auszulösen, durch die das Wachstum stagniert und die Arbeitslosigkeit anzusteigen beginnt. In der Folge ist die Politik gezwungen, das Kräfteverhältnis zwischen Lohn- und Kapitalabhängigen neu auszuhandeln; und dies geschieht zumeist im Interesse der Kapitalfraktion. Anders als die lohnabhängigen Staatsbürger*innen kann das Kapital seinen Unmut also nicht nur durch Wahlen ausdrücken, sondern zudem (von Lobby- und Medienmacht einmal ganz abgesehen) durch die wirtschaftliche Sphäre, in der Macht nicht durch demokratische, sondern durch kapitalistische Funktionslogiken bestimmt wird (2).
Hinzu kommt, dass die neoliberale Revolution ab den 1980er Jahren der Demokratie schweren Schaden zugefügt hat. Denn der Hauptangriffspunkt des Neoliberalismus war nichts weniger als die Grundbedingung einer jeden Demokratie – die Idee der Gesellschaft selbst. Die demokratische Gesellschaft lebt davon, dass das Gerechte durch gesellschaftliche Debatten und kollektive Absprachen bestimmt wird. Im Neoliberalismus kann aber nur gerecht sein, was vom Markt bestimmt und in Preisen ausgedrückt werden kann. Ökonomisierung ist daher immer auch Entdemokratisierung, sprich: die Verdrängung des demokratischen Prinzips. In diesem Sinne sind die neoliberalen Umstrukturierungen der Gesellschaft als direkter Angriff auf die Demokratie zu verstehen: Zu denken wäre etwa an den Bruch des mit den Gewerkschaften eingegangenen Gesellschaftsvertrags, an die Privatisierung der öffentlichen Unternehmen, des öffentlichen Dienstes und der öffentlichen Medienanstalten, an die Kürzungen des Sozialstaats, an die Zuwendung politischer Parteien hin zu hoch spezialisierten Berater- und Lobbyistenzirkeln oder an die Steuersenkungen für Unternehmen und Kapital. In jedem dieser Fälle wurde die gesellschaftliche Kontrolle der Märkte geschwächt und kollektive Absprachen durch vermeintlich objektive (faktisch aber den Kapitalinteressen dienende) Marktlogiken ersetzt (3).
Auch dass sich die demokratischen Nationalstaaten in der Finanzkrise ab 2008 entschieden haben, die Schulden von Großbanken und Großkonzernen durch eigene Neuverschuldung zu sozialisieren, hat die Abhängigkeit der Regierungen gegenüber dem Finanzkapital wohl nicht unbedingt verbessert. Und schließlich ist da das Problem, dass sich die nationalen Demokratien in globale Wirtschaftsräume eingegliedert haben. Denn durch die unzähligen Verträge und Abkommen, welche den Weltwirtschaftsraum mittlerweile verrechtlichen, wurden die nationalen Regierungen so in Verbindlichkeiten eingebunden, welche die Handlungsmöglichkeiten der Demokratien weit über laufende Amtszeiten hinaus eingrenzen. Das beste Beispiel für diese Entwicklung ist die Europäische Union selbst: Denn europäische Institutionen – häufig spärlich demokratisch legitimiert – stehen faktisch über nationalem Recht (4). Was das für das demokratische Ideal der Volkssouveränität bedeuten kann, hat sich in der griechischen Staatsschuldenkrise in aller Brutalität gezeigt.
Zukunft der Demokratie: Nationalstaat oder Transnationalisierung?
Was also kann getan werden, um die Demokratie zu revitalisieren? Mit schäumenden Mund melden sich hier die rechtsnationalen Kräfte zu Wort. Dabei haben sie zwar keine Gegenwartsanalyse vorzuweisen, können aber doch mit ausgemachten Sündenböcken und einem klar definierten Programm punkten: „Zurück in den Nationalstaat und die Volksgemeinschaft!“, hallt es dann durch Straßen und Parlamente. Ein Schlachtruf, der selbst manch eine*n, dessen Herz eigentlich links schlägt, nostalgisch werden lässt. Denn war es nicht schön, in der guten alten Zeit des Nationalstaats? Als Wahlen noch Bedeutung hatten, als Wirtschaftspolitik im Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und Kapital betrieben wurde? Als noch mit Stolz verkündet werden konnte: “Ich wähle die Sozialdemokratie”? Warum also nicht wieder Grenzbäume pflanzen und Wechselstuben bauen? Wäre das nicht ein kleiner Preis für die zurückgewonnene Idylle?
Die links-progressive Antwort muss hier aber sein, auf den harten Fakten zu bestehen, die vielleicht unangenehm, aber leider unabänderlich sind. Denn es bleibt wahr, dass sich der Kapitalismus nicht mit den Köpfen der Menschen gemeinsam renationalisieren wird. Und dies führt zu einem tragischen Dilemma: Wenn der Kapitalismus global bleibt, die Demokratie aber versucht, sich in einem heroischen Akt der Selbstrettung in den Nationalstaat zurückzuziehen, dann nehmen wir uns als Demokrat*innen selbst die Mittel, mit denen wir dem Globalkapitalismus tatsächlich etwas entgegensetzen können. Die Ironie der heutigen Zeit ist also, dass es ebenjene “Demokraten” sind, die den Nationalstaat zurückbeschwören, welche das Grab der Demokratie selbst schaufeln. Statt also auf die Illusion der nationalstaatlichen Entscheidungsmacht hineinzufallen, müssen wir auf fortschrittliche Antworten setzen. Und deshalb muss die demokratische Antwort auf den Globalkapitalismus die Transnationalisierung der Demokratie beinhalten (5). Denn nur wenn wir Europa demokratisieren, können wir einen ausreichend großen Wirtschaftsraum kontrollieren, sodass wir die Entscheidungshoheit über die Frage, wie wir in Zukunft leben und unsere Gesellschaften organisieren wollen, tatsächlich zurückgewinnen können.
Losverfahren und Bürgerräte für eine Demokratie des 21. Jahrhunderts?
Die produktive Frage lautet also heute: Wie ließe sich eine europäische Demokratie konzeptionieren, ohne dass – bei ca. 400 Millionen Stimmberechtigten – die einzelne Stimme endgültig in der Bedeutungslosigkeit verschwindet? Hier schließlich wird die antike Methode des Losverfahrens relevant, über die seit längerem diskutiert wird und die u.a. kürzlich in der irischen Entscheidung zur Liberalisierung des Rechts auf Schwangerschaftsabbrüche mit großem Erfolg angewendet wurde.
Der Kern des Losverfahrens ist dabei ein anderes Verständnis von Demokratie: Denn gehen Wahldemokratien von dem Idealbild einer Willensbeziehung zwischen Regierten und Regierenden aus, so stellen sich Losverfahren-basierte Modelle die Repräsentanten als Abbild der Repräsentierten vor. Hierzu wird sich einer Methode bedient, die uns aus sozialwissenschaftlichen Meinungsumfragen geläufig ist; der zufälligen Wahl per Los, welche eine repräsentative Auswahl von Bürger*innen schafft, die in jeder entscheidenden Hinsicht (sozioökonomische Klasse, politische Überzeugungen, Geschlecht, Herkunft etc.) die Gesamtbevölkerung spiegelt. So könnte die elitäre Kaste der Berufspolitiker*innen aufgebrochen werden – und zwar ohne ein Quotensystem, über deren genaue Definition und Inhalt der Streit nie enden wird. Enormer Vorteil für den europäischen Kontext ist auch, dass sich in einer repräsentativen Auswahl alle europäischen Nationalitäten wiederfinden werden. Zudem ist die Methode auch in großen politischen Entitäten wie der Europäischen Union signifikant. Während die wahlbasierte Demokratie in Europa also an ihre Grenzen stößt, kann dies von einer auf dem Losverfahren basierenden Demokratie nicht behauptet werden.
Durch das Losverfahren könnten durch Normalbürger*innen bestellte Bürgerräte gebildet werden, die sich – bei fachlicher Unterstützung durch von den Räten selbst bestellte Expert*innen – intensiv mit einer bestimmten Thematik auseinandersetzen könnten, um schließlich Empfehlungen zu geben oder auch Entscheidungen zu treffen. Das Besondere an diesem Ansatz ist dabei, dass er als tendenziell unbegrenzt gelten muss. Denn in der praktischen Umsetzung sollte sich hier nicht nur ein zufällig ausgewählter Bürgerrat vorgestellt werden. Prinzipiell kann die Methode auf jeder politischen Ebene (kommunal, regional, national, europaweit) angewandt werden. Auch könnten – unter anderem, um die Macht der Bürgerräte durch checks-and-balances einzudämmen – unterschiedliche Teilaufgaben des politischen Prozesses von unterschiedlichen Räten übernommen werden. Denkbar sind etwa Bürgerräte, die sich mit dem Aufstellen einer Agenda befassen, solche, die das Ausarbeiten von Gesetzestexten übernehmen, solche, die diese Gesetzestexte überprüfen, solche, die über die Gesetze abstimmen und solche, welche den Gesamtprozess dieses politischen Entscheidungsfindungsverfahren überwachen und gegebenenfalls weiterentwickeln (6).
Klar ist, dass so eine nicht gerade kleine Anzahl von Bürgerräten entstehen würde. Klar ist auch, dass eine solche europäische Demokratie ein großer organisatorischer (sowie finanzieller) Aufwand wäre, nicht zuletzt, weil der Dienst in einem Bürgerrat selbstverständlich vergütet werden müsste. Klar ist schließlich aber auch, dass eine solche Demokratie den großen demokratischen Idealen – gleicher Anspruch aller Beteiligten auf Inklusion, sowie Rückbindung der Entscheidungen an einen zwanglos-diskursiven Austausch – vielleicht zum ersten Mal wirklich nahe kommen könnte. Es muss dabei hervorgehoben werden, was die Einbindung von Normalbürger*innen mittelfristig für den politischen Diskurs bedeuten könnte: Denn zahlreiche sozialwissenschaftliche Experimente scheinen konsequent die Stereotypen zu widerlegen, nach denen Normalbürger*innen nicht in der Lage sind, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Die Empirie zeigt viel mehr: Wenn Menschen die Chance erhalten, sich jenseits des Medientrubels intensiv mit einer Thematik auseinander zu setzen, werden sie Gegenargumenten gegenüber empfänglicher, sie beziehen alternative Perspektiven in ihre Entscheidungen mit ein und sie behalten den Blick für das Ganze (7). Projizieren wir diese Erkenntnisse auf eine Gesellschaft, in der die Chancen nicht schlecht stehen, dass jede*r Einzelne im Laufe seines oder ihres Lebens tatsächlich die Möglichkeit erhält, am politischen Prozess signifikant mitwirken zu können, könnte tatsächlich eine Rationalisierung des politischen Diskurses eintreten. Wir würden Populismus mit Partizipation begegnen. Wir würden eine echte Demokratie jenseits von elitären Machtzyklen, Lobbyismus und aufgepeitschten Presseberichten ermöglichen. Wir würden eine europäische Demokratie schaffen.
Sind ausgeloste Bürgerräte also eine Antwort auf alle Probleme der kapitalistischen Demokratien? Nein, ganz sicher nicht. Zum einen können Bürgerräte nicht die grundsätzliche Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie auflösen, da der Kapitalismus natürlich fortbesteht, auch wenn die Demokratie reformiert wird. Zum anderen sind auch ausgeloste Bürgerräte nicht in der Lage, das bestehende Repräsentativsystem vollständig zu ersetzen. Denn natürlich bräuchte es auch weiterhin Regierungen, welche fähig sind, kurzfristig und effizient auf Problemlagen zu reagieren. Und natürlich bräuchte es auch weiterhin Parlamente und Parteien, die gewillt sind, diese Regierungen zu kontrollieren. Als Ergänzung der bestehenden demokratischen Institutionen strahlt das Projekt jedoch eine enorme emanzipative Kraft aus:
Dem Gerede von der Notwendigkeit marktkonformer Parlamentsentscheidungen (das Angela Merkel nachgesagt wird) würde ein Bollwerk entgegengesetzt, welches die Frage, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen, tatsächlich wieder in den Mittelpunkt stellt. Ausgeloste Bürgerräte könnten sich aus Lobby- und Machtverstrickungen befreien. Sie würden die Souveränität des (europäischen) Demos, in letzter Instanz über die eigene Zukunft entscheiden zu können, wiederherstellen. Wenn eine solche Reform auf europäischer Ebene angegangen werden würde, könnte so auch das Machtverhältnis zwischen Globalkapitalismus und Demokratie wieder eingerenkt werden. Schließlich könnte sich das Faktum, dass der Kapitalismus in einem solchen Projekt nicht grundsätzlich angetastet würde, sogar als ein politisch positiver Faktor erweisen, da sich in Europa zwar überragende Mehrheiten für die Revitalisierung der Demokratie, aber weit weniger Mehrheiten für radikal-antikapitalistische Projekte finden lassen. In diesem Sinne stünde das Projekt für eine neu-radikalisierte Sozialdemokratie. Da die klassischen Vertreter*innen dieser Strömung aber durch Eigenverschulden ausfallen, braucht das Projekt einen politischen Agenten – und wer könnte da besser geeignet sein als DiEM25, die Bewegung der europäischen Solidarität, die Bewegung der europäischen Demokratie, die Bewegung des Europäischen Frühlings?
Zum Weiterlesen:
1) Eurobarometer (2019): Trust in Institutions. Unter: https://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/index.cfm/Chart/index .
(2) Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp.
(3) Siehe u.a.: Brown, Wendy (2015): Undoing the Demos. Neoliberalism‘s Stealth Revolution. New York: Zone Books. Und: Harvey, David (2007): A Brief History of Neoliberalism. New York: Oxford University Press.
(4) Gill, Stephen/Cutler, Clair (2014): New Constitutionalism and World Order. Cambridge: University Press. Siehe auch: Streeck (2013).
(5) Habermas, Jürgen (2013): Im Sog der Technokratie. Kleine Politische Schriften XII. Berlin: Suhrkamp.
(6) Bouricius, Terrill G. (2013): Democracy Through Multi-Body Sortition: Athenian Lessons for the Modern Day, in: Journal of Public Deliberation, Vol. 9 (1), Art. 11.
(7) U.a.: Fishkin, James (2009): When the People Speak. Deliberate Democracy and Public Consultation. Oxford: University Press. Auch in: Van Reybrouck, David (2013): Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Göttingen: Wallstein.
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