Gesichter des Demokratiedefizits
Original (engl) von Slavoj Žižek
Manchmal werden aus Gesichtern Symbole, und zwar nicht die der starken Individualität ihrer Träger, sondern der anonymen Kräfte dahinter. War nicht das dämlich grinsende Gesicht von Jeroen Dijssebloem, Vorsitzender der Eurogruppe, das Symbol des brutalen Drucks der EU auf Griechenland? Kürzlich hat das internationale Handelsabkommen TTIP ein neues Symbol bekommen: das kalte Gesicht der EU-Kommissarin für Handel, Cecilia Malmström, welche auf die Frage eines Journalisten, wie sie weiterhin TTIP trotz der massiven öffentlichen Ablehnung vertreten könne, schamlos antwortete: Ich beziehe mein Mandat nicht von der europäischen Bevölkerung. Es ist eine besondere Ironie des Schicksals, dass ihr Familienname eine Abwandlung von “maelstrom” (dt. Mahlstrom) ist.
Nun ist ein drittes anonymes Gesicht aufgetaucht: Frans Timmermanns, der erste Vizepräsident der Europäischen Kommission, der am 23. Dezember 2015 die polnische Regierung für die Verabschiedung eines neuen Gesetzes rügte, welches eine Bedrohung der demokratischen Verfassungsordnung darstellt, weil es das Verfassungsgericht der Autorität der Regierung unterordnet. Darüber hinaus verurteilte Timmermans das neue Mediengesetz, das in wenigen Wochen durch das polnische Parlament gedrückt wurde: dieses Gesetz erlaubt dem Parlament, alle Führungskräfte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und Rundfunks des Landes fristlos zu entlassen und ihre Nachfolger zu ernennen. Die regierende Partei rechtfertigt dieses Gesetz als Notwendigkeit, um unfaire Kritik an ihren Handlungen zu unterbinden, während die Opposition dies als schwerwiegende Einschränkung der Pressefreiheit anprangert. In einer umgehenden und scharf formulierten Antwort ermahnte die polnische Seite Brüssel, zukünftig mehr Zurückhaltung bei Belehrungen des Parlaments und der Regierung eines souveränen und demokratischen Staates zu üben.
Aus der üblichen linksliberalen Sicht ist es natürlich unangemessen, diese drei Namen in eine Reihe zu stellen: Dijsselbloem und Malmström personifizieren den Druck der Brüsseler Bürokraten (ohne demokratische Legitimation) auf Staaten und ihre demokratisch gewählten Regierungen, während Timmermans intervenierte, um grundlegende demokratische Werte (Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit) vor einer Regierung zu beschützen, die ihre rechtlichen Befugnisse überschritten hat. Es mag unangebracht scheinen, den brutalen neoliberalen Druck auf Griechenland mit der gerechtfertigten Kritik an Polen zu vergleichen, doch hat es die Reaktion der polnischen Regierung nicht auf den Punkt gebracht? Timmermans, ein EU-Kommissar ohne jegliche demokratische Legitimation, übte Druck auf die demokratisch gewählte Regierung eines souveränen Staates aus.
Begegnen wir nicht einem ähnlichen Dilemma im heutigen Deutschland? Als ich kürzlich Fragen von Lesern der “Süddeutschen Zeitung” zur Flüchtlingskrise beantwortete, war die Frage, die die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog, gerade die nach Demokratie, aber mit einem rechtspopulistischem Einschlag: als Angela Merkel ihren berühmten öffentlichen Aufruf machte und Hunderttausende nach Deutschland einlud, was war ihre demokratische Legitimation dafür? Was gab ihr das Recht, ohne demokratische Abstimmung, eine so radikale Veränderung in das Leben der Deutschen zu bringen? Worauf ich hinaus möchte ist natürlich nicht, ausländerfeindliche Populisten zu unterstützen, sondern die Grenzen demokratischer Legitimierung deutlich aufzuzeigen. Das Gleiche gilt auch für die Befürworter einer uneingeschränkten Öffnung der Grenzen: sind diese sich darüber im Klaren, dass, da unsere Demokratien nationalstaatliche Demokratien sind, ihre Forderung einer Aussetzung der Demokratie gleichkommt? Sollte eine derart gigantische Veränderung ein Land auswirken dürfen, ohne dass seine Bevölkerung demokratisch abgestimmt hat?
Und gilt nicht dasselbe für den Ruf nach Transparenz bei EU Entscheidungen? Da in vielen Ländern die Mehrheit der Bevölkerung gegen einen Schuldenschnitt Griechenlands war, hätten öffentliche EU-Verhandlungen die Vertreter dieser Länder nicht noch härtere Maßnahmen gegen Griechenland fordern lassen? Hier stoßen wir auf das alte Problem: was passiert mit der Demokratie, wenn die Mehrheit geneigt ist, für rassistische und sexistische Gesetze zu stimmen? Ich scheue mich nicht, daraus zu folgern, dass emanzipatorische Politik nicht von vornherein an formal-demokratische Legitimationsverfahren gebunden sein sollte. Menschen wissen oft genug NICHT was sie wollen, oder sie wollen nicht, was sie wissen, oder sie wollen schlicht das Falsche. Es gibt hier keine einfache Abkürzung, und wir können uns all zu gut ein demokratisiertes Europa mit viel stärker engagierten Bürgern vorstellen, in dem die meisten Regierungen aus ausländerfeindlichen, populistischen Parteien bestehen.
Linke Kritiker der EU finden sich daher in einer merkwürdigen Situation wieder: während sie das Demokratiedefizit der EU bedauern und Pläne vorschlagen, um die Entscheidungsfindung in Brüssel transparenter zu machen, unterstützen sie die “undemokratischen” Brüsseler Kommissare, wenn diese Druck auf (demokratisch legitimierte) neue faschistische Tendenzen ausüben. Der Kontext dieser Sackgasse ist der “große böse Wolf” der europäischen liberalen Linken: die Bedrohung durch einen neuen Faschismus, verkörpert durch fremdenfeindlichen, rechtsgerichteten Populismus. Dieser Strohmann wird als der Hauptfeind wahrgenommen, gegen den wir uns alle vereinigen sollten, von den (kläglichen) Resten der radikalen Linken bis zu den bürgerlichen Liberaldemokraten (inklusive EU-Kommissaren wie Timmermans). Europa wird als Kontinent porträtiert, der in einen neuen Faschismus verfällt, welcher sich aus paranoidem Hass und Angst vor dem externen, ethnisch-religiösen Feind (meistens Moslems) nährt. Während dieser neue Faschismus in einigen postkommunistischen osteuropäischen Ländern (Ungarn, Polen, etc.) bereits überwiegt, erstarkt er auch in vielen anderen Ländern, in denen die Ansicht herrscht, dass die muslimische Flüchtlings”invasion” eine Bedrohung des europäischen Erbes darstellt.
Aber ist dieser Faschismus wirklich Faschismus? Der Begriff Faschismus wird allzu oft als eine Ausrede benutzt, um eine detaillierte Analyse dessen zu vermeiden, was tatsächlich vorgeht. Der niederländische Rechtspopulist Pim Fortuyn, ermordet im Mai 2002, zwei Wochen vor den Wahlen, in denen er aller Erwartungen nach ein Fünftel der Stimmen bekommen hätte, war eine paradox symptomatische Figur: ein rechter Populist, dessen persönliche Eigenschaften und (fast) alle seiner Meinungen nahezu perfekt politisch korrekt waren: er war schwul, hatte gute persönliche Beziehungen zu vielen Immigranten, verfügte über einen angeborenen Sinn für Ironie u. s. w. Kurz gesagt, er war ein guter, toleranter Liberaler in Bezug auf alles außer seiner grundlegenden politischen Haltung: er war gegen fundamentalistische Einwanderer aufgrund ihres Hasses gegen Homosexualität, Frauenrechte u.s.w. Er verkörperte somit die Schnittmenge zwischen rechtsgerichtetem Populismus und liberaler politischer Korrektheit; vielleicht musste er deswegen sterben, weil er der lebende Beweis dafür war, dass der Widerspruch zwischen rechtsgerichtetem Populismus und liberaler Toleranz ein unechter ist, dass wir es mit den zwei Seiten derselben Medaille zu tun haben.
Darüber hinaus scheinen viele Linksliberale (wie Habermas), die den anhaltenden Niedergang der EU beklagen, deren Vergangenheit zu idealisieren: die demokratische EU, deren Verlust sie beklagen, hat nie existiert. Die jüngste EU-Politik ist nur ein verzweifelter Versuch, Europa für den neuen globalen Kapitalismus vorzubereiten. Die übliche linksliberale Kritik der EU ist, dass sie grundsätzlich okay ist, nur mit einem Demokratiedefizit. Dies verrät die gleiche Naivität, wie die der Kritiker ex-kommunistischer Länder, die diese im Grunde unterstützten und lediglich deren Mangel an Demokratie beklagten: in beiden Fällen ist/war das Demokratiedefizit ein notwendiger Teil der globalen Struktur.
Offensichtlich wäre die einzige Möglichkeit, dem Demokratiedefizit des globalen Kapitalismus zu begegnen, eine Art transnationale Einrichtung gewesen. War es nicht Kant, der schon vor mehr als zweihundert Jahren die Notwendigkeit einer überstaatlichen Rechtsordnung durch den Aufstieg einer globalen Gesellschaft begründete? Da der kleinere oder größere Teil der Gemeinschaft der Völker der Erde sich bisher so weit entwickelt hat, dass Rechtsverletzungen an einem Ort überall auf der Welt mitempfunden werden, ist die Idee eines Gesetzes der Weltbürgerschaft keine hochtrabende oder übertriebene Vorstellung mehr. Das bringt uns jedoch zu dem wohl grundsätzlichen Widerspruch der “New World Order”: die strukturelle Unmöglichkeit eine globale politische Ordnung zu finden, die der globalen, kapitalistischen Wirtschaft entsprechen würde. Was ist, wenn aus strukturellen Gründen und nicht nur durch empirische Grenzen, es keine weltweite Demokratie oder eine repräsentative Weltregierung geben kann? Das strukturelle Problem (die Antinomie) des globalen Kapitalismus liegt in der Unmöglichkeit (und gleichzeitigen Notwendigkeit) einer gesellschaftspolitischen Ordnung, in die er passen würde: die globale Marktwirtschaft kann nicht direkt als globale liberale Demokratie mit weltweiten Wahlen organisiert werden. In der Politik kehren die in der Weltwirtschaft verdrängten Formen zurück: archaische Fixierungen, insbesondere grundlegende (ethnische, religiöse, kulturelle) Identitäten. Diese Spannung definiert unser heutiges Dilemma: der globale freie Verkehr von Gütern wird durch wachsende Spaltungen im gesellschaftlichen Bereich begleitet. Während Güter immer freier zirkulieren, werden Menschen durch neue Mauern voneinander getrennt.
Bedeutet das, dass wir das Thema Demokratisierung Europas als eine Sackgasse umgehen sollten? Ganz im Gegenteil, es bedeutet, dass wir es, gerade wegen seiner zentralen Bedeutung, in einer radikaleren Weise angehen sollten, als nur transparentere demokratischen Verfahren zu fordern. Eine ganze Reihe von schwierigen Fragen muss gestellt werden: wie kann man effektiv ideologischer Gehirnwäsche durch Massenmedien entgegenwirken? Wie kann man Menschen befähigen, sich angemessen mit Fakten über ausschlaggebende Entscheidungen vertraut zu machen, Entscheidungen, die von kulturellen Kriegen verschleiert werden, Entscheidungen über TTIP und andere halb-geheime Vereinbarungen? Und so weiter… Das Problem der Demokratisierung Europas entpuppt sich daher schnell als ein noch grundlegenderes: wie kann man die Grundwerte unseres gesellschaftlichen Lebens verändern, so dass Demokratie möglich wird?
DiEM25 Versammlung I: Transparenz in Europa – jetzt!
Als Europäer sind wir häufig gezwungen zwischen zwei entsetzlichen Optionen zu wählen: uns in den Kokon unserer Nationalstaaten zurückzuziehen oder uns der demokratie-freien Zone von Brüssel zu ergeben.
Aber wir wissen, dass es eine Alternative gibt und ihr seid DiEM25 beigetreten, um zu unserem einfachen aber radikalen Ziel beizutragen: Europa bis spätestens 2025 zu demokratisieren.
Jetzt ist die Zeit für unsere erste paneuropäische Kampagne gekommen: TRANSPARENZ IN EUROPA – JETZT! Diese Kampagne zielt darauf ab, Einblick in alle Entscheidungen auf EU-Ebene für die europäischen Bürger einzufordern. Unsere Forderung umfasst, dass Treffen des Europäischen Rates, ECOFIN, Eurogruppe, FTT, ESM etc. für alle Europäer zugänglich werden. Zusätzlich planen wir die Intransparenz der Entscheidungsprozesse aufzudecken, die die Macht haben, die Demokratie auf lange, lange Sicht zu verdrängen (z.B. die derzeitigen TTiP Verhandlungen).
Wir laden euch herzlich ein zur DiEM25 Versammlung: Transparenz in Europa – jetzt! am 23. März 2016 in Rom.
Die Versammlung wird gemeinsam mit European Alternatives, Piroetta und Talk Real organisiert und stellt sowohl den Start dieser Kampagne als auch den Start der DiEM25 Bewegung in Italien dar.
So könnt ihr dabei sein:
- Persönlich teilnehmen. Die Eintrittskarten sind begrenzt, also reserviert rechtzeitig und kommt am 23. März nach Rom (Piazza Manfredo Fanti, 47) um mit eurer Stimme zu dieser entscheidenden Diskussion beizutragen. Für die, die es interessiert: es besteht die Möglichkeit, ehrenamtlich bei der Veranstaltung zu helfen, aber gebt uns bitte noch etwas Zeit, um unseren Rückstand bei den E-Mail Anfragen aufzuarbeiten.
- Den Livestream verfolgen – wir senden euch rechtzeitig den Link.
- An den online Diskussionen teilnehmen – obwohl das Forum auf diem25.org noch nicht bereit steht (wir bitten um Entschuldigung), haben Mitglieder wie ihr an vielen Orten Diskussionsräume geschaffen, zum Beispiel auf Facebook, Reddit, Consider.it und Blogs.
- Teilt die Neuigkeiten über die Veranstaltung und bereitet Blogeinträge, Videos, virale Bilder und Ähnliches zum Thema Transparenz und demokratische Verantwortung. Diese verbreiten wir gemeinsam ab dem 23. März. Lasst es uns unmöglich machen, dass man uns ignoriert.
- Unterstützt die Veranstaltung durch eine Spende: Spenden werden zur Deckung der Veranstaltungskosten verwendet, inklusive des Livestreaming und der Simultanübersetzungen, um die Diskussion einem größtmöglichen Publikum zugänglich zu machen. Falls diese Kosten gedeckt sind, wird verbleibendes Geld für kommende DiEM25 Veranstaltungen verwendet.
Weitere Informationen findet ihr auf der “Democracy in Europe” Veranstaltungswebseite, oder ihr schickt uns eine Email an [email protected].
Wir danken euch herzlich für eure Unterstützung. Jeder kann mithelfen!
Wir freuen uns darauf, euch in Rom zu treffen.
Carpe DiEM25!
Europäische Demokratie: das Erwachen der Macht
An die Initiatorinnen und Initiatoren von DiEM25,
An die Freundinnen und Freunde der Demokratie and Europas und all seine Bürgerinnen und Bürger,
Lieber Yanis, Du hast einen Traum. Und der ist auch unserer.
Uns treibt die Vorstellung eines besonderen Europas an. Eines offenen, transnationalen und souveränen Europas. Einer umfangreichen, aktiven, allgemeinen und inbegriffenen europäischen Demokratie. Doch tagtäglich verfällt der europäische Kontinent stärker in politische und moralische Machtlosigkeit. Angesichts des Aufschwungs des Rechtsextremismus und des plötzlichen Anstiegs von Ausländerhass und Feindseligkeit können wir nicht hinnehmen, dass unser Traum durch „Jeder für sich allein“-Bewegungen und Regierungen, die sich den Interessen weniger beugen, unterwandert wird.
Unser Europa unterscheidet sich. Und zwar insofern, dass es seinen Werten gerecht wird, seine Bürger respektiert und diejenigen willkommen heißt, die Zuflucht suchen. Wir träumen von einem bürgernahen Europa mit geteilter Souveränität, in dem alle Europäer wieder Vertrauen zu ihren nationalen und lokalen Parlamenten fassen und zusammen über ihre gemeinsame Zukunft im Europäischen Parlament entscheiden. Einem Kontinent, der in Vielfalt und Solidarität vereint ist und wo supranationale Institutionen das Gefühl einer gemeinsamen Bestimmung festigen. Ja, wir wollen die Demokratie aus den Dunkelkammern holen, wo sie der Europäische Rat und folglich die Mitgliedsstaaten für sich beschlagnahmen. Überall in Europa und darüber hinaus sehen Grüne „Demokratie als ein Projekt“. Wir stehen für eine demokratische Erneuerung Europas als notwendige Voraussetzung für einen Austritt aus der Krise an, auch wenn das allein nicht ausreicht. Wir sind seit Langem von der Notwendigkeit der europäischen Souveränität und folglich einer europäischen verfassungsgebenden Versammlung überzeugt!
Wir sind nicht naiv. Wir wissen, dass im Namen eines angeblichen Zusammenwachsens Europas Politik betrieben wird, die sowohl die europäischen Bürger als auch die europäische Idee an sich unterjocht. Aber wir sind realistisch. Nichts kann aus Ruinen auferstehen. Hinter uns liegen sechs Jahrzehnte des Friedens, der Verständigung, gemeinsamen Wohlstands und allmählicher Wiedervereinigung eines Kontinents, der einst von andauernden Kriegen und den Machtspielchen der Atomgroßmächte gespalten war. Doch vergesst nicht all diejenigen, die sich jetzt schon für Veränderungen in Europa engagieren. Im Herzen der Institutionen sitzen nicht nur Technokraten und Neoliberale, die nach der Pfeife der Multimillionäre tanzen. Wir haben niemals das politische Europa mit Europapolitik verwechselt.
Manche von uns sind zum Startschuss von DiEM25 in Berlin und zwar genau aus dem Grund, weil wir uns täglich aktiv für Demokratie, Ökologie, Solidarität und Toleranz einsetzen und der Meinung sind, dass soziale, ökonomische, demokratische, moralische sowie Klima- und Energiekrisen die Umsetzung radikal neuer Programme erfordern. Neben einer demokratischen Reform erfordert die notwendige Solidarität unter den Europäern und zwischen den Generationen den Abschied vom Mythos eines endlosen Wachstums und der materialistischen Herrschaft des Konsums. Der Klimawandel verpflichtet uns, dies alles im Großen wie im Kleinen zu überdenken, von Energie bis zu Ernährung, von Schulden bis zu Einwanderung, von Freizügigkeit bis zur Teilhabe am Wohlstand, von Außenpolitik bis zu Handelsstrategien. Es wird Zeit, endlich das 21. Jahrhundert einzuläuten.
Um diese neue Idee gedeihen zu lassen, um sie erstrebenswerter zu machen und wert, sie mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen, brauchen wir konkrete Projekte, die aus unseren Kämpfen entstehen, in die Realität eingebettet und ins Feld geführt werden: Grundeinkommen und Gehaltsobergrenzen, lokale und ergänzenden Währungen zum Euro, erneuerbare Energien in der Hand der Bürger, Agrarökologie, Gemeingüter, Genossenschaften, Bildung, Kultur, es gibt in Zukunft viel anzupacken! Und darüber hinaus werden wir uns mit unseren politischen Identitäten auseinandersetzen müssen: die Label von gestern sind nicht mehr gültig. Es ist nicht wichtig, woher wir kommen, sondern wohin wir zusammen gehen wollen.
Ihr seid Europa, wir alle sind Europa, selbst diejenigen, welche die gemütliche Behaglichkeit falscher Gewissheiten der Nationalstaatlichkeit bevorzugen. Es ist wichtig, Ängste und Hirngespinste zu überwinden, unsere Gesellschaften zu transformieren und zusammen ein neues Kapitel der Geschichte einzuleiten. Europa ist die Zukunft unserer gemeinschaftlichen und pluralistischen Souveränität, eines gerechten und nachhaltigen Wohlstandes.
Liebe Freundinnen und Freunde der Demokratie, liebe Freundinnen und Freunde Europas, liebe Initiatorinnen und Initiatoren von DiEM25, ihr habt recht, wenn ihr denkt, dass wir etwas verändern können. Mit unseren geballten Unterschieden und Gemeinsamkeiten, lasst es uns versuchen!
Lang lebe die Demokratie. Lang lebe Europa. Lang lebe die europäische Demokratie.
Unterzeichnende
Florent Marcellesi (Wortführer, im Europäischen Parlament, Spanien),
Julien Bayou (Wortführer, Europe Écologie-Les Verts, Frankreich),
Karima Delli (MEP, Frankreich),
Michel Reimon (MEP, Österreich),
Rui Tavares (Ex-MEP, Portugal),
Vedran Horvat (Kroatien),
Adam Ostolski (Wortführer, Polish Green Party),
Laura Carlier (Wortführerin, FYEG, Belgien),
Teo Comet (Wortführer, FYEG, Finnland),
Zakia Khattabi and Patrick Dupriez (gemeinsame Wortführende, Ecolo, Belgien)
Was macht DiEM25 zu einer erfolgreicheren Bewegung? Worin unterscheidet sie sich?
Antwort von Yanis Varoufakis:
Es ist vor allem unsere Fähigkeit, ein breites Spektrum an Demokraten in ganz Europe zu inspirieren. Nicht nur Linke (wie ich), sondern auch Sozialdemokraten, Grüne und Aktivisten unterschiedlichster Bewegungen, selbst Liberale, Mitte-rechts Gesinnte, sprich Demokraten, die wie der Rest von uns erkennen, dass die anti-demokratische Natur der EU-Institutionen eine deutliche und gegenwärtige Bedrohung aller liberaler Demokratien bedeutet.
Also, wie wollen wir diese umfassende, demokratische Koalition herbeiführen? Menschen werden nicht zusammenfinden, nur weil sich unser Manifest gut liest. Sie werden sich uns nur anschließen, wenn sie erkennen, dass wir mit ihnen zusammen paneuropäische Antworten auf paneuropäische Probleme ausarbeiten wollen. Antworten, die unsere nationalen Demokratien durch die Demokratisierung und, zwingend, vernünftige und zweckmäßige Gestaltung der EU-Institutionen beleben werden.
Um diese gesamteuropäische Bewegung zu werden, müssen wir DiEM in die Infrastruktur verwandeln, die europäische Demokraten nutzen werden, um gemeinsam Strategien/Stellungen auf den 5 wichtigsten Schlachtfeldern für die Demokratisierung Europas zu entwickeln.
(i) Ein umfassender Green New Deal für Europa – ein Grünbuch mit Programmvorschlägen umreißt DiEMs Ansätze, wie Nebenkrisen wie Schulden, Banking, eine niedrige Investitionsquote, grüne Energien/Technologieentwicklung und Armut anzugehen sind
(ii) Europas Geld – unser Programm [konform mit (i) oben] in Bezug auf die Integration von Wirtschafts- und Währungspolitik über die Kluft zwischen Eurozone und Nicht-Eurozone hinweg; DiEMs Strategie gegen das brutale Abschmettern jeglicher Agenda wider der Austerity-/Troika-Politik (sowie Drohungen, die Banken jeglicher Mitgliedsstaaten, die DiEMs Ansichten teilen, zu schließen); ein Programm zu einem parallelen Zahlungssystem und parallelen Währungen; eine umfassende Perspektive, wie das globale Währungssystem (dessen größten Wirtschaftsraum die EU darstellt) zu organisieren ist
(iii) TTiP, WTO, Weltbank, IMF – DiEMs Haltung zu Europas Mitgliedschaft in internationalen Abkommen und Organisationen, deren Regeln und Vorschriften soziale Auswirkungen auf Europa (und, wahrhaftig, die Welt) haben
(iv) Migration & Flüchtlinge – DiEM wird ein umfassendes Programm zu Flüchtlingen (basierend auf den Grundsätzen der Menschlichkeit und Europas Verpflichtungen gegenüber der UN) und Migration zusammenstellen. Jahrhundertelang hat Europa die Welt kolonisiert und dem Rest des Planeten Menschen, Krankheiten, Krieg und verschiedene Regelsysteme aufgezwungen. Jetzt verlangen die veränderten demographischen Gegebenheiten, dass sich die Entwicklung umkehrt, Nicht-Europäer nach Europa migrieren und woanders erdachte Regeln Europas Zukunft bestimmen. DiEM wird Strategien vorschlagen, wie dieser unausweichliche Umschwung sowohl für Europa als auch für den Rest der Welt am besten verwaltet und die Vorteile daraus maximiert werden können.
(v) Dezentrale Europäisierung & Verfassungsgebende Versammlung – DiEM verpflichtet sich, kommunale, regionale und nationale Souveränität wiederherzustellen, indem wir Krisen [siehe (i) und (iv) oben], die derzeit Parlamente und Städte handlungsunfähig machen, europäisieren. DiEM lehnt die Vorstellung, dass die Europäisierung dieser Krisen und die Suche nach Lösungen auf europäischer Ebene zu Lasten der Souveränität auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene geht, ab. Zu diesem Zweck wird DiEM ein Grünbuch mit Programmvorschlägen vorlegen, worin erklärt wird, wie die weitere Verfahrensweise bezüglich Punkt (i), (ii) und (iv) oben dazu geeignet ist, die Macht auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene wiederherzustellen, und dessen Ziel es sein wird, den Entwurf einer demokratischen europäischen Verfassung vorzulegen. DiEM versucht, ein Konzept für eine solche Verfassung zu entwerfen.
VORGESCHLAGENES VERFAHREN ZUR HERSTELLUNG VON DEN OBEN GENANNTEN FÜNF GRUNDSATZPAPIEREN
Schritt 1 – DiEM wird eine Liste von Fragen/Anliegen für jedes der fünf Schlachtfelder zusammenstellen und seine Mitglieder dazu aufrufen, sich auf lokaler Ebene und im Geist der Selbstorganisation zusammenzufinden, um dem Rest von DiEM spezifische Lösungen und Programme vorzulegen. Wir planen Versammlungen in Rathäusern, Sitzungen in Theatern, Kinos, Kulturzentren etc.
Schritt 2 – Alle Programmvorschläge, Anliegen und Empfehlungen werden von einem speziell dafür vorgesehenen DiEM-Komitee (eines pro Schlachtfeld) zusammengetragen, mit dem Ziel, einen Vorschlag für ein Grundsatzpapier auszuarbeiten, das bei einer DiEM Versammlung eingereicht wird siehe Schritt 3
Schritt 3 – Zwischen jetzt und Ende 2016 wird DiEM fünf Termine und Städte, je eine pro Schlachtfeld, festlegen, wo der fragliche Vorschlag für das Grundsatzpapier diskutiert wird und das DiEM-Programm zum betreffenden Schlachtfeld fertiggestellt wird.
Schritt 4 – Wenn alle DiEM-Programme fertiggestellt sind, werden für alle Mitglieder auf DiEMs digitaler Plattform zur Abstimmung gestellt.
Entschuldigung für die lange Antwort. Aber deine Frage ist zentral für DiEMs Daseinsberechtigung!
Erleben wir gerade den Anfang vom Ende Europas?
Antwort von Yanis Varoufakis:
Ich hoffe nicht, aber ich fürchte, dass wir sehr wohl den Verfall der EU erleben.
Die Eurozone ist, seit einiger Zeit schon, in einem fortgeschrittenen Stadium der Dekonstruktion. Denkt darüber nach: Wenn euch jemand 10 Millionen Euro schenken würde, (das wär schön, oder?), und ihr hättet die Wahl, es auf eine deutsche, eine italienische, eine portugiesische oder eine griechische Bank zu bringen, wär euch das einerlei? Natürlich nicht. Ihr wurdet euer Geld lieber auf ein deutsches oder niederländisches Bankkonto einzahlen, wissend dass Gefahr eines Verlustes eures Guthabens in Italien oder Griechenland viel höher wäre. Dies ist ein sicheres Zeichen dafür, dass die Eurozone zersplittert ist. Es gibt genügend Beweise, dass es weiter zersplittert (anstatt sich zu konsolidieren). Wenn ihr euch zum Beispiel die Konzentration der öffentlichen Verschuldung anseht, wird deutlich, dass die Staatsverschuldung immer mehr in den Banken des besagten Staates konzentriert ist, (was dem Gegenteil von dem entspricht, was in einem einheitlichen Währungs- und Banksystem passieren sollte).
Über die Eurozone hinaus wurde das Schengener Abkommen bereits außer Kraft gesetzt und steht unter enormer Belastung, da Kräfte der Fremdenfeindlichkeit, des Ultranationalismus und blanker Paranoia die Führung übernehmen. Die Unfähigkeit der EU, mit dem umzugehen, was immerhin nur eine gemäßigte Flüchtlingskrise ist (im Vergleich zu beispielsweise dem, womit Jordanien oder der Libanon konfrontiert sind) spricht in dieser Hinsicht Bände.
Auf politischer Ebene, in vielerlei Hinsicht, wird sich der Zerfall der EU überall äußern. Osteuropäische Regierung erklären offen ihre Ablehnung des Prinzips der Solidarität, die britische Wählerschaft hat sich von Brüssel entfremdet (und wird bloß aus Angst vor dem Unbekannten für den Verbleib in der EU stimmen), Europas südliche Peripherie ist von einer vermeidbaren Depression verwüstet, was allein an dem schädlichen makroökonomischen Management des Brüsseler-Frankfurter Establishments liegt, das vielmehr daran interessiert ist, so zu tun, als setze es nicht durchsetzbare Regeln durch, anstatt die Interessen der Union zu wahren.
Um es zusammenzufassen, erinnert euch an die Erfahrungen mit der Sowjetunion. Wenn eine nicht lebensfähige Wirtschaftsarchitektur durch Autoritarismus und brachialen politischen Willen aufrechterhalten wird, ist ihr Zusammenbruch lediglich verschoben. Aber wenn es kommt, dann kommt es sehr schnell und sehr schmerzhaft. Ich hoffe, dass es den Europäern gelingt, die EU zu demokratisieren, bevor sich das Szenario wiederholt.